Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
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Vielleicht schaute sie hinaus aufs Meer, auf die verschwommene Linie, wo der graue Himmel auf das graue Wasser traf. Der salzige Wind, der die Wellen ans Ufer trieb, hob eine Locke des trockenen Haares und wehte sie der Frau ins Gesicht. Doch sie spürte es nicht, sie saß einfach da, das aufgedunsene Gesicht blass und ausdruckslos, die trüben schwarzen Augen weit aufgerissen. Krächzend kreisten Möwen über einem Fisch-schwarm, den sie in der Nähe des Ufers erspäht hatten. Einer der Vögel schoss hinab und schwebte kurz über der reglosen Gestalt am Rande der Klippe, er stieß einen Schrei aus und stürzte sich wieder ins Getümmel zu seinen Artgenossen. Weit draußen auf dem Meer fuhr ein Frachter Richtung Norwegen, ein roter Fleck am Horizont. Eine zweite Möwe traute sich näher an die Frau heran, neugierig geworden durch die im Wind wehenden Haare. Es dauerte nicht lange, da hatten die übrigen Vögel keine Lust mehr, sich um die Fische zu zanken, sondern umschwärmten ebenfalls die Frau. Schließlich setzte sich eine Möwe auf ihre Schulter, wie der Papagei eines Piraten. Die Frau rührte sich nicht. Der Vogel reckte herausfordernd den Hals, sah sich wie ein Schuljunge, der etwas Verbotenes im Schilde führte, prüfend in alle Richtungen um und schob der Frau den Schnabel ins Ohr.
Für Detective Chief Inspector Alan Banks war der Sonntagmorgen nicht unbedingt hoch und heilig. Schließlich war er kein Kirchgänger, und er wachte nur selten mit einem so schlimmen Kater auf, dass er sich vor Kopfschmerzen kaum bewegen oder sprechen konnte. Nein, er hatte sich am Vorabend The Black Dahlia auf DVD angesehen und zwei Gläser von Tescos bestem chilenischen Cabernet zur aufgewärmten Pizza Funghi getrunken. Doch wie alle Menschen blieb auch Banks gern etwas länger im Bett und genoss es, ein, zwei Stunden lang die Zeitung zu lesen. Am Nachmittag wollte er seine Mutter anrufen und ihr alles Gute zum Muttertag wünschen und sich dann einige Streichquartette von Schostakowitsch anhören, die er vor kurzem bei iTunes heruntergeladen hatte. Außerdem wollte er Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart von Tony Judt weiterlesen. Banks war aufgefallen, dass er in letzter Zeit deutlich weniger Romane las, stattdessen wuchs in ihm der Wunsch, die Welt, in der er aufgewachsen war, aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Romane waren sicherlich gut geeignet, die Atmosphäre einer bestimmten Zeit einzufangen, aber Banks suchte Fakten und Einschätzungen, das Gesamtbild.
An diesem Sonntag, dem dritten März, war ihm dieser Luxus jedoch nicht vergönnt. Alles begann ganz harmlos, wie so oft bei folgenschweren Ereignissen, gegen halb neun, als das Telefon klingelte und Detective Sergeant Kevin Templeton sich meldete, der beim Dezernat Kapitalverbrechen der Western Area Wochenenddienst im Mannschaftsraum hatte.
»Chef, ich bin's. DS Templeton.«
Banks spürte einen Anflug von Abneigung. Er mochte Templeton nicht besonders und würde erleichtert sein, wenn dessen Versetzung endlich durch wäre. Manchmal redete er sich ein, es läge daran, dass Templeton ihm zu sehr ähnele, aber das stimmte nicht. Templeton nahm nicht nur manchmal Abkürzungen, so wie Banks, sondern trampelte zu oft auf den Gefühlen der Menschen herum. Was noch schlimmer war: Es schien ihm Spaß zu machen. »Was ist?«, brummte Banks. »Hoffentlich was Gutes.«
»Es ist was Gutes, Sir. Wird Ihnen gefallen.«
Banks hörte aus Templetons Stimme eine gewisse duckmäuserische Aufregung heraus. Seit ihrer letzten Meinungsverschiedenheit hatte der junge Sergeant versucht, sich auf alle möglichen Arten bei Banks einzuschmeicheln, doch dieses gekünstelte, atemlose Getue erinnerte Banks zu sehr an Uriah Heep aus Dickens' David Copperfield.
»Spucken Sie's doch einfach aus!«, sagte Banks. »Oder muss ich mich vielleicht vorher anziehen?« Als Templeton lachte, hielt Banks den Hörer vom Ohr weg.
»Ich denke, Sie sollten sich anziehen, Sir, und so schnell wie möglich rüberkommen zu Taylor's Yard.«
Taylor's Yard. Banks wusste, dass es der Name eines kleinen Ganges war, der in das sogenannte »Labyrinth« führte, ein Gewirr aus Gassen, das den südlichen Teil des Stadtzentrums hinter dem Marktplatz von Eastvale durchzog. Der schmale Gang hieß zwar »Yard«, aber nicht weil er an einen Hof oder einen Platz erinnerte, sondern weil irgendein Schlaumeier mal gesagt hatte, er sei höchstens einen Yard
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