Niewinter 02 - Salvatore, R: Niewinter 02 - Neverwinter
als ich sah, wie mein bester Freund sein Leben aushauchte.
Ich bin also allein. Das Leben, das ich kannte, ist vorüber.
Natürlich empfinde ich Trauer, bedauere all das, was nicht sein konnte, und fühle mich einsam. Bei jeder Biegung möchte ich Bruenor erzählen, was es Neues gibt, und jedes Mal fällt mir ein, dass er leider nicht mehr da ist. Das alles ist spürbar, der ganze Schmerz, der zu erwarten wäre.
Aber da ist auch noch etwas anderes, etwas Unerwartetes. Etwas, das mich überrascht und eine ganze Menge Verwirrung und sogar Schuldgefühle mit sich bringt.
Echte Schuldgefühle, denn ich komme mir vor wie ein Schuft.
Und doch kann ich es nicht leugnen.
Als ich Gauntlgrym und dem Grab von König Bruenor Heldenhammer den Rücken kehrte, empfand ich neben all dem Schmerz, der Wut, der Hilflosigkeit und all den Bildern, in denen ich wieder und wieder durchspielte, was geschehen war, und mich fragte, was ich hätte anders machen können, auch ein tiefes Gefühl der Erleichterung.
Ich schäme mich, dies zuzugeben, aber es abzustreiten, wäre eine Lüge. Schlimmer noch, ich würde mich selbst belügen. Denn diesmal ist es wirklich endgültig. Es wird Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und weiterzuziehen. Es wird Zeit – wie Innovindil es mir einst in einem fernen Wald erklärte – für einen Neuanfang.
Natürlich bin ich nicht erleichtert, dass Bruenor tot ist. Oder Thibbledorf Pwent! Bruenor war der beste Freund, den ich je hatte, und wenn es möglich wäre, wünschte ich, dass er sogleich wieder an meiner Seite stünde.
Aber insgesamt, auf mein Leben bezogen, empfinde ich Erleichterung. Ich bin schon lange bereit, Catti-brie, Regis und Wulfgar loszulassen – was nicht heißt, dass ich sie vergesse! Ich werde sie niemals vergessen, will sie auch gar nicht vergessen. Sie haben mein Herz und meine Seele geprägt und begleiten Drizzt Do’Urden auf jedem Schritt seines Weges. Aber ich habe den Verlust – meinen Verlust – schon vor Jahren, ja, vor Jahrzehnten akzeptiert, und nur die Sturheit des alten Zwergs, der sie nicht gehen lassen wollte und immer darauf beharrte, dass man sie noch finden und unsere wunderbare gemeinsame Zeit wieder aufleben lassen könnte, zwang mich, daran festzuhalten.
Jetzt bin ich allein. Bin ich frei? Was für ein furchtbarer Gedanke! Wie illoyal ich doch bin, weil ich mich auf die Zukunft freue, auf einen neuen Weg, ein drittes Leben, in dem ich die schmerzlichen Lektionen meines ersten Lebens in Menzoberranzan, aber auch die Wunder und Freuden der zweiten Etappe mit den Gefährten der Halle in mir trage. Die Peitschen der Drow-Oberinnen haben mich hart gemacht. Die ehrliche Liebe meiner Freunde hat mein Herz erweicht. Heute weiß ich, wie es ist, wie es sein sollte und wie es niemals sein sollte. Und da Glück und Nützlichkeit meines zweiten Lebens alles übertrafen, was ich aus meinen ersten Jahren kannte, könnte da mein drittes noch ganz andere Höhen erreichen …?
Ich weiß es nicht, und mir ist auch klar, was für ein Glückspilz ich war, diese vier erstaunlichen Kameraden zu finden. Werde ich je wieder solche Freunde haben, die für mich alles aufs Spiel setzen würden? Werde ich wieder lieben? Und selbst wenn – wird es eine so tiefe Liebe sein wie die, die Catti-brie und mich verband?
Ich weiß es nicht, aber ich habe keine Angst vor dem Versuch, es herauszufinden. Das ist heute meine Freiheit: dass ich mit offenen Augen und offenem Herzen meinen Weg gehe. Ohne Bedauern und mit echtem Verständnis dafür, welch ein Segen die Zeit mit meinen Gefährten war.
Und zugleich entdecke ich eine weitere Freiheit: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erwache ich morgens ohne Zorn. Es ist geradezu seltsam. Ich habe das Gefühl, als hätte die Wut, die meine Muskeln so lange in Anspannung hielt, endlich nachgelassen.
Auch das erfüllt mich mit Schuldgefühlen, und ich bin sicher, dass meine Begleiter mich oft bei verwirrten Selbstgesprächen ertappen. Vielleicht erliege ich auch einer Selbsttäuschung. Vielleicht habe ich über den Verlust von Bruenor den Verstand verloren, weil der Schmerz so vernichtend war, und tue jetzt so, als wäre das alles gar nicht so schlimm.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Ich kann es nur verwundert hinnehmen.
Ich kann es nur spüren und akzeptieren.
Jetzt bin ich allein.
Ich bin frei.
Drizzt Do’Urden
1
Geplantes Blutbad
Sylora Salm stand außerhalb der Aschewolke des aufkeimenden Todesrings und trat von einem Fuß auf den
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