Night School 01 - Du darfst keinem trauen
Er seufzte frustriert.
»Das macht mich ganz krank. Du musst mich für ein absolutes Arschloch halten.«
Allie nickte erneut und verzog spöttisch den Mund, und da musste er lachen. Sie versuchte, nicht zu lächeln, scheiterte aber.
»Ich wusste es. Ich hoffe, du glaubst mir, Allie. Ich hab’s nicht so gemeint, wie du denkst. Echt nicht. Ich hasse die Snobs an dieser Schule. Ich werde nie einer von denen sein. Können wir nicht noch mal von vorn anfangen?«
Irgendwie vertraue ich ihm nicht. Andererseits vertraue ich überhaupt keinem so ganz , dachte sie. Wozu also die Sache unnötig in die Länge ziehen?
»Klar«, sagte sie schließlich.
»Gut. Dann stehen wir jetzt wieder bei null.« Er blickte über den Friedhof und sagte: »Okay, das war ja erfreulich kurz und schmerzlos. Sieht so aus, als kämen die da unten gut voran. Dann sollten wir jetzt mal loslegen.«
Geschmeidig sprang er vom Baum und drehte sich um, um ihr zu helfen. Als sie von dem Ast herunterglitt, übersah er geflissentlich ihre ausgestreckte Hand, packte ihre Hüfte und hob sie locker herunter. Er ist ganz schön kräftig , dachte sie erstaunt.
»An die Arbeit«, sagte er, nahm die Rechen auf und schritt beschwingt davon. Allie hinterher.
Die Grabsteine enthielten nur wenige Angaben ( »Emma Littlejohn, geliebte Ehefrau von Frederick Littlejohn und Mutter von Frances Littlejohn, 1803–1849, Gott schenke dir ewige Ruhe« ), doch sie konnte an keinem vorübergehen, ohne die Inschrift zu lesen und sich zu fragen, ob der Mensch, der da lag, glücklich gewesen war und wie es ihn hierherverschlagen hatte.
Sechsundvierzig. Nicht sehr alt , dachte sie. Meine Mutter ist älter.
Die Rasenmäher hatten gut vorgearbeitet. Carter gab Allie einen Rechen und begann, Gras und Laub fachmännisch zu großen Haufen zusammenzuharken. Während sie ihm nach Kräften nacheiferte, entschuldigte sie sich bei jedem Grab.
Verzeihen Sie die Störung, Mrs Coxon (1784–1827). Bin gleich wieder weg.
Ihr Haufen geriet eher armselig, unterwegs hatte sie die halbe Grasfracht verloren.
»Klasse machst du das!«, sagte Carter süffisant.
»Ach, sei bloß still!« Sie lachte. »Hab Mitleid. Ich mach das zum ersten Mal.«
Er sah ehrlich erstaunt aus. »Du hast noch nie Gras zusammengerecht?«
»Noch nie«, bestätigte sie und zuckte die Achseln.
»Wieso nicht? Musst du nie was für deine Eltern machen?« Es klang missbilligend.
»Mensch, Carter, ich lebe in London. Wir haben keinen Garten, wir haben nur so eine Art Innenhof mit Blumentöpfen und ein bisschen Beet am Rand. Den Hof gefegt hab ich oft, aber geharkt noch nie.«
Eine Weile arbeitete er still vor sich hin, dann hielt er kopfschüttelnd inne. »London muss voll von Kindern sein, die noch nie so was gemacht haben. Ich finde das total komisch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, nicht draußen zu arbeiten und mir die Hände schmutzig zu machen.«
Allie stützte sich auf ihren Rechen und sah staunend zu, wie schnell und gründlich Carter arbeitete.
»Wo kommst du eigentlich her?«, fragte sie.
Er machte eine ausladende Geste. »Sieh dich um.«
»Was, du bist von hier?«
»Ich lebe hier. Hier ist mein Zuhause.«
Verdutzt harkte sie eine Weile weiter, dann machte sie eine Pause und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Und wo hast du vorher gelebt?«
Er hielt ebenfalls inne. »Nirgendwo. Ich bin hier aufgewachsen. Meine Eltern waren hier angestellt. Ich habe ein Stipendium. Ich habe nie woanders gelebt.«
»Sind deine Eltern Lehrer?«
Er harkte weiter und antwortete ihr, ohne aufzuschauen: »Nein, meine Eltern haben früher mal zum Personal gehört.« Er betonte die Worte früher und Personal .
Allie zerrte mit dem Rechen am Gras. »Sie sind also nicht mehr hier beschäftigt?«
»Nein.« Seine Stimme klang kalt. »Tote werden hier nicht weiterbeschäftigt.«
Allie erstarrte. Er harkte wie wild weiter; sie konnte die Muskeln unter seinem T-Shirt erkennen.
Hier liegen Mr und Mrs West. In Frieden.
»Oh Gott, Carter. Tut mir leid. Das hab ich nicht gewusst.«
Sie ließ den Rechen fallen, ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Tut mir echt leid.«
Er riss sich los und blitzte sie an: »Muss es nicht. Abgesehen davon, hab ich keine Lust, den ganzen Tag hier zu verbringen, also würdest du jetzt bitte mal mit anpacken?«
Betroffen hob sie ihren Rechen auf und ging ein paar Gräber weiter. Eine gute Viertelstunde arbeiteten sie schweigend. Allies Rücken und Arme schmerzten,
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