Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
hatte sogar ein schlechtes Gewissen, weil ich dich küssen wollte, obwohl sie doch nicht mehr am Leben war.« Sie quetschte die Plastikhand des Lehrskeletts, als brauchte sie eine Stütze. »Mir kam es irgendwie … egoistisch vor, etwas für mich selber haben zu wollen, wenn sie nie wieder etwas haben konnte. Außerdem war ich wütend, weil ich dachte, dass keiner nach ihren Mördern sucht. Aber ich weiß, wie sehr es einem wehtut, wenn man so … fallen gelassen wird. Das muss dir ganz schön wehgetan haben, dass ich so kalt und … distanziert war.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte er sanft. »Du hast einfach Zeit gebraucht. Das war mir klar. Ich war nie wütend auf dich.«
»Und du hast auf mich gewartet«, fuhr sie fort. Ihre Unterlippe zitterte, und Allie hielt inne, bis sie die Fassung wiedergefunden hatte. »Du hast mich nie aufgegeben. Warum? Warum hast du nie aufgegeben?«
Sie sah zu ihm auf, doch er senkte rasch den Blick.
»Es gab schon so Momente, da wollte ich aufgeben. Ich bin ja kein Übermensch. Zurückgewiesen zu werden, tut mir genauso weh wie allen anderen. Aber ich hab immer geglaubt, dass da zwischen uns was ist, das … was bedeutet. Für das es sich lohnt, zu kämpfen. Und ich glaube, du hast das auch so empfunden.« Bei diesen Worten hob er den Kopf und sah sie mit seinen strahlend blauen Augen an. Als sie die Verletzlichkeit darin bemerkte, krampfte sich ihr das Herz zusammen. »Aber jedes Mal hast du dich wieder für Carter entschieden. Und neulich, als du mit Carter aus dem Wald gekommen bist und ich wusste, dass da irgendwas passiert ist, dachte ich: So, jetzt reicht’s. Das tu ich mir nicht mehr an. Aber dann bist du doch wieder zu mir zurückgekommen und hast mich so angeschaut.« Er malte einen Kreis in die Luft, wie um ihr Gesicht einzurahmen.
Allie kämpfte mit den Worten. »Ich … Ich bin gar nicht mit Carter zusammen. Er hat ’ne Freundin.«
»Das weiß ich auch«, sagte Sylvain achselzuckend. »Aber ich hab ja gesehen, wie er dich anschaut. Und wie du ihn anschaust.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat ganz klar gesagt, dass das mit Jules was Ernstes ist. Und ich weiß jetzt, dass wir nie hätten zusammen sein sollen. Das zwischen ihm und mir ist Freundesliebe – mehr nicht.«
»Freundesliebe?« Sylvain hob die Augenbrauen.
Allie wurde rot. »Das ist was … wovon mir Rachel erzählt hat … Ist ja auch egal. Wichtig ist: Carter und ich sind dazu bestimmt, Freunde zu sein. Mehr ist da nicht«, sagte sie fest.
»Aha.« Sylvain machte einen Schritt auf sie zu und halbierte dabei den Abstand zwischen ihnen. Allie quetschte die Plastikhand noch fester. »Du bist jetzt also frei von Verpflichtungen gegenüber Carter – und deshalb bist du hier. Weil ich dein – wie sagt man? – Plan B bin.«
Seine Antwort verblüffte sie so, dass sie zusammenzuckte und beinahe das Skelett zu Fall gebracht hätte; es klapperte bedenklich, als sie es wieder an seinen Ort schob.
»Nein«, sagte sie und machte einen halben Schritt auf ihn zu. »Das ist jetzt nicht fair.«
»Ach nein?«, versetzte Sylvain. Sein Blick forderte sie heraus, doch bei der Wahrheit zu bleiben.
Das Problem war nur – so ganz unrecht hatte er nicht.
Seit Monaten kämpfte Sylvain nun schon um sie, wollte ihr Vertrauen wiedergewinnen. Doch sie hatte immer nur darauf gewartet, dass Carter sich entschied, was
er
wollte.
Allie wurde ganz heiß im Gesicht, und sie griff nach Sylvains Arm.
»Es tut mir leid. Du bist nicht mein Plan B. Ich weiß nur manchmal nicht, was ich will.«
»Was heißt hier ›manchmal‹?«, sagte er so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob er es wirklich gesagt hatte. »Du hast doch noch nie gewusst, was du willst.«
Wie am Abend zuvor auf dem Gang legte er seine Hand auf ihre. Seine Körperwärme durchströmte sie. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn seine Hände ihr Gesicht streichelten, ihre Haare. Wenn er sie an sich zog.
»Du musst dich mal entscheiden, Allie. Ich möchte nicht, dass du mich nimmst, nur weil Carter schon vergeben ist. Ich möchte, dass du dich für mich entscheidest, weil du mich willst.« Seine Augen loderten so blau, dass es fast schon wehtat. »Ich wollte immer nur der sein, den du willst. Aber allmählich glaub ich, dass ich das nie sein werde. Ich kann nicht ewig auf dich warten – das könnte niemand. Ich glaub, ich hab eh schon zu lange auf dich gewartet. Es tut einfach zu weh …«
Irgendwo am anderen Ende des Flurs
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