Wild Eyes - mit dem Wind um die Welt - mit 16 allein auf dem Meer
D ER I NDISCHE O ZEAN
Auf Seekarten gibt es Orte, vor denen selbst wettergegerbte, alte Seeleute einen riesen Respekt haben. Denn sie wissen: Hier darf nichts schiefgehen. Wer hier durchkommen will, darf nichts dem Zufall überlassen. Orte wie die windumtoste Passage südlich von Kap Hoorn in Südamerika. Oder die Mitte des Indischen Ozeans. Hier war ich!
Flächenmäßig ist der Indische Ozean zwar kleiner als der Pazifik und der Atlantik, doch immerhin bedecken seine Wassermassen rund 14 Prozent der Erdoberfläche – 74,9 Millionen Quadratkilometer. Im Norden begrenzt durch die zerklüfteten Küsten Indiens und Südostasiens, erstreckt er sich im Westen bis Afrika. Im Osten rollen seine Wogen an die Strände Australiens und Indochinas. Im Süden trotzt die Antarktis seiner Wucht. Auf seiner unendlichen Wasserfläche schimmern wie kostbare Juwelen unzählige Inseln und exotische Inselstaaten wie Madagaskar, Piratenstützpunkt des 18. Jahrhunderts, oder die Malediven, deren türkisblaue Gewässer die Heimat von sechsundzwanzig verschiedenen Haiarten sind.
Der Indische Ozean ist schön und gleichzeitig schrecklich. Segler kennen seine friedliche Seite, mit stetigen Winden und klarem Himmel. Sie wissen aber auch, dass er sich in ein brüllendes Ungeheuer verwandeln kann, das mit schweren Gewitterwolken, Blitzen und turmhohen Wellen zum Kampf herausfordert – der Mensch gegen das Meer. Noch vor weniger als hundert Jahren bedeutete ein manövrierunfähiges Schiff in den rollenden Brechern des Indischen Ozeans das Todesurteil. Für den Kapitän blieb nur die Hoffnung, dass ihm sein Rumvorrat nicht ausging, bevor er starb.
Selbst heute, im Zeitalter der Technik, bleibt der Indische Ozean ein gefährliches Gewässer. Sein Zentrum liegt zweitausend Seemeilen von der nächsten Such- und Rettungsstation entfernt. So weit, dass einem Rettungsflugzeug, das tief genug fliegen kann, um ein sinkendes Segelboot zu orten, der Kraftstoff ausgeht, bevor es das Boot erreicht.
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Seewetterbericht des Seewetterdienstes
Commander’s Weather
Vorhersage für den 9. Juni 2010
12:30 UTC (= koordinierte Weltzeit):
Am Mittwoch auffrischender Wind aus NW bis N um 15:00 UTC, dann vorwiegend zwischen 21:00 UTC und 6:00 bis 9:00 UTC raue See aufgrund eines herannahenden Sturmsystems …
Am Rande des Tiefdruckgebiets kommt es heute ab 21:00 UTC zu vereinzelten Böen und zunehmender Windgeschwindigkeit bis zu 50-60 Knoten. Danach auffrischender Wind aus NW, zwischen 6:00 und 9:00 UTC gefolgt von einer Kaltfront.
Wind aus NW mit einer Geschwindigkeit von 35 bis 50 Knoten, mit einzelnen Böen bis zu 60 Knoten.
Voraussichtlich 9 bis 12 Std. schwerste Wetterbedingungen.
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Am tollsten waren die Stürme. Die
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war ein schnelles Boot, eine 12-m-Jacht der Open 40-Klasse. Sie war für hohe Geschwindigkeiten gebaut und es machte Spaß, mit ihr über die bis zu neun Meter hohen Wellenkämme zu fliegen. Wellen, von denen jeder Segler nur träumen kann: riesige heranrollende Wasserberge, die aussahen wie in dunkle, graue Seide gehüllt. Tagsüber hingen große, schwarze Wolken über dem Meer, nur hin und wieder kam ein Sonnenstrahl durch. In der Nacht klarte es meistens auf. Dann stand ich an Deck, mit eingehakter Sicherungsleine, und mein Boot und ich jagten über die hohe Dünung, während die Sterne über mir so groß und hell leuchteten wie Monde.
In der zweiten Juniwoche verschlechterte sich das Wetter. Schwere Stürme zerfetzten die Segel der
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und schlugen alles kurz und klein. Das Schlimme war, dass mir zwischendurch, wenn der Sturm mal Pause machte, keine Zeit blieb, um die Schäden zu reparieren.
Das Segelflicken gehörte zu meinen wichtigsten Aufgaben, denn ohne Segel war die
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hilflos. Meistens war ich, wenn mir der Sturm mal eine Pause gönnte, nur damit beschäftigt – alle anderen Reparaturarbeiten blieben liegen. Daher segelte ich auch schon die längste Zeit mit meinem Ersatzautopiloten, und selbst der funktionierte nicht richtig. Kaum hatte ich ein Leck unter dem Drosselventil repariert, drang schon wieder Seewasser in die Kabine ein. Die Heizung war schon lange kaputt, meine Kleidung trocknete nicht mehr und ich fror Tag und Nacht erbärmlich. Und während ich fieberhaft versuchte, die Schäden zu reparieren, frischte der Wind erneut auf und schon bald wurde ich wieder von Sturmböen in meiner
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