Night School. Der den Zweifel sät (German Edition)
mit ihren erwartungsvollen kristallblauen Augen anschaute … Bevor alles aus dem Ruder lief, war sie Allies beste Freundin gewesen. Und sie war ja auch kein schlechter Mensch – eigentlich. Sie war einfach nur … Wie hatte sich Rachel letzten Sommer ausgedrückt?
Nicht die Allerstabilste.
Allie wägte ihre Worte sorgfältig. »Hör mal, Jo. Gabe war das, nicht du. Gabe ist der Mörder, nicht du. Gabe ist der schlimmste Mensch aller Zeiten, nicht du. Okay?«
Die Erleichterung in Jos Gesicht war Allies Lohn. Wäre sie sich bloß sicher gewesen, dass sie es auch so meinte.
»Hilfe«, stöhnte Jo. »Ich glaub, ich bin ins Koma gefallen.«
Es war sieben Uhr. Die Wände der Bibliothek waren sauber geschrubbt, und Allies Nacken und Schultern schmerzten allein schon bei dem Gedanken, einen Arm heben zu müssen. Sie saß auf der Abdeckplane neben Jo und nahm einen ordentlichen Schluck aus ihrer lauwarmen Wasserflasche.
»Tun dir auch die Arme so weh?«, fragte Allie und rieb sich die Schultern.
»Und wie.«
»Dann bist du nicht im Koma.« Vorsichtig streckte Allie ihre Beine aus. »Mein Gott, worauf hab ich mich da bloß eingelassen? Bei Rachel gibt es einen Swimmingpool und Pferde.
Pferde
, Jo! Wenn ich dageblieben wäre, könnte ich mich jetzt im Pool treiben lassen und weiche Pferdeschnauzen streicheln.«
»Hier.« Jo reckte ihr das Gesicht entgegen. »Meine Nase ist weich. Kannste streicheln.«
Müde streichelte Allie ihre Nase. »Wow. Das ist ja wie bei Rachel. Und wo ist der Pool?«
»Gibt’s nicht.«
»Ätzend.«
»Voll.«
»Wollt ihr hier nur am Boden liegen und rumjammern? Oder kommt ihr vielleicht mit zum Abendessen?« Allie sah auf. Vor ihnen stand Carter und sah skeptisch auf sie herab.
»Jo liegt im Koma«, klärte Allie ihn auf. »Die braucht nichts mehr zu essen.«
»Warte. Hast du essen gesagt? Ich glaub, ich bin doch wach.« Jo rappelte sich auf.
»Mein Gott«, sagte Allie. »Ein Wunder!«
»Du machst das doch erst einen Tag, Sheridan.« Carter zog sie hoch. »Du kannst unmöglich jetzt schon müde sein.«
»Alles tut weh«, sagte sie. »Schultern, Arme, Rücken.«
»Beine, Füße, Kopf«, sprang Jo ihr bei.
»Knöchel, Schienbein. Nenn mir irgendeinen Körperteil – er tut weh.«
Carter wirkte wenig beeindruckt.
»Etwas zu essen ist gut gegen den Schmerz.« Er lenkte ihre Schritte Richtung Speisesaal.
»Ein weiser Mann«, sagte Allie zu Jo.
»O ja«, erwiderte diese.
Die meisten Schüler waren noch nicht aus den Ferien zurück, weshalb nur ein paar Tische eingedeckt waren. An einem davon saß Eloise mit dem Biolehrer Jerry Cole und ein paar anderen. Am Tisch daneben saß Sylvain, allein.
Allie wurde flau im Magen. Daran hatte sie nicht gedacht: dass sie mit Carter und Sylvain an einem Tisch würde sitzen müssen.
Das wird bestimmt gruselig.
Doch Jo rettete die Situation, indem sie sich auf den Stuhl neben Sylvain fallen ließ. »Hilf mir, Sylvain«, sagte sie mitleidheischend. »Mir tut alles weh.«
»Was ist passiert?«, fragte Rachel, die gleich nach ihnen hereinkam und sich den Stuhl neben Allie nahm. »Wieso tut Jo alles weh?«
»Wir haben uns ins Koma gearbeitet«, erklärte Allie.
»Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Ich war ja immer eine Leseratte, aber warum diese Schule
derart
viele Bücher hat …?« Rachel stöhnte und streckte sich. »Ich meine, wie viel von diesem Wissen werden wir wirklich brauchen?«
»Können wir nicht wieder zu euch nach Hause zurück?«, fragte Allie. »Da war’s irgendwie netter.«
»Mann, ihr seid vielleicht Heulsusen«, warf Carter entnervt ein. »Ich hab hier den ganzen Tag Möbel gerückt, während ihr bloß Wände abgewaschen und ’n paar Bücher aufgehoben habt.«
»Schon gut«, sagten die Mädchen im Chor.
Wie auf ein Stichwort öffneten sich die Türen am anderen Ende des Speisesaals, und die Bediensteten trugen das Essen auf. Jeder Tisch bekam eine dampfende Schüssel mit Pasta.
»Na toll«, murmelte Carter sarkastisch. »Schon wieder Nudeln.«
»Supi.« Jos Miene hellte sich auf. »Sind das die mit Käse?«
»Wieso schon wieder?«, fragte Allie.
»Das gab’s jetzt fast jeden Tag.« Carter senkte die Stimme, weil gerade eine Servierkraft vorbeikam. »Die Köche sind zu sehr mit Reparaturarbeiten beschäftigt, um groß was anderes zu kochen.«
»Habt ihr schon das Neueste von Lisa gehört?«, wechselte Jo das Thema. Die Schüsseln mit dem Essen wurden am Tisch herumgereicht, und ein leises Stimmengewirr
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