Night School. Der den Zweifel sät (German Edition)
nicht zu berühren. Dann nahm sie Allies gesunde Hand in ihre und erzählte alles, was sie wusste.
Gabe hatte Jo seine Nachrichten vermutlich über Nathaniels heimlichen Spion zukommen lassen. Die letzte Nachricht hatte er wahrscheinlich am Abend des Balls übergeben – und damit den Fehlalarm ausgelöst. Vermutlich waren es seine Spuren, die die Wachen im Schnee entdeckt hatten. Der oder die Unbekannte hatte die Nachrichten dann nachts in Jos Zimmer geschleust. Ob Jo gewusst hatte, wer der Spion war, oder ob es ein System gab, wie sie antworten konnte, wusste man nicht.
»Um elf Uhr dann hat diese Person, wer immer es ist, das Tor geöffnet«, fuhr Rachel fort.
Allies Herzklopfen schlug unnatürlich laut in ihren Ohren.
»Das Tor wird mit einer Fernbedienung geöffnet, die sich in Isabelles Büro befindet«, erläuterte Rachel. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Die Person muss sich also frei in unserem Umfeld bewegen, wenn sie unbemerkt in Isabelles Büro gelangen kann. Sehr wahrscheinlich ist es ein Lehrer. Obwohl, einer von den älteren Night-Schoolern könnte es auch sein.«
Allie musste sich zwingen, ruhig weiterzuatmen.
Isabelle und Raj vertraten die Ansicht, der Fahrer habe den Wagen abseits der Straße im Wald geparkt, etwa hundert Meter von der Einfahrt entfernt. Und dass Gabe den Rest des Weges zu Fuß zurückgelegt habe.
»Warum er Jo getötet hat, wissen wir nicht. Vielleicht wollte sie meinen Vater oder Isabelle über das Treffen mit ihm informieren.« Allie spürte Rachels warme Hand. »Vielleicht wollte er sie auch nur verletzen, und die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Dad jedenfalls ist sich sicher, dass Gabe wusste, wann du mit Zoe auf Patrouille warst. Und dass ihm klar war, dass du das Schulgelände nie verlassen hättest, es sei denn, du hättest jemandem, der dir nahesteht, helfen müssen.«
Eine Träne rollte über Allies Gesicht aufs Kissen. Sie schloss die Augen.
Lass diese Geschichte endlich zu Ende sein!
»Er brauchte nur zu warten, bis du ihr zu Hilfe eilst.«
Allies Schultern bebten vor Kummer.
»Aber womit er nicht gerechnet hat«, Rachel weinte nun auch; ihre Stimme bebte, während sie Allie übers Haar strich, »war, wie gut du dich zur Wehr setzen kannst.«
Jo wurde an Heiligabend auf dem Londoner Highgate-Friedhof beerdigt. In der ereignisarmen Weihnachtszeit gierten die Zeitungen nach Meldungen, und deshalb berichteten alle vom tragischen Unfalltod eines schönen, wohlhabenden Teenagers auf vereister Landstraße.
Epilog
Zehn Schritte, elf Schritte, zwölf Schritte …
Langsam und unter Schmerzen ging Allie über den Flur der Krankenstation. Siebzehn endlose Schritte bis zum Fenster am Ende des Gangs, und siebzehn lange Schritte zurück bis zum Treppenhaus. Auf wackeligen Beinen, während ihre Pantoffeln ein zombieartiges Schlurfgeräusch von sich gaben.
»Übst du immer noch?« Die Schwester blieb stehen und sah sie freundlich an. »Du machst Fortschritte, Allie.«
Allie biss die Zähne zusammen und machte den siebzehnten Schritt, bevor sie Luft holte. Der Schweiß rann ihr übers Gesicht. »Danke.« Sie versuchte ein Lächeln, fürchtete aber, dass sie es vermasselte. In letzter Zeit hatte sie nicht mehr viel zu lächeln.
»Übertreib’s nur nicht, hörst du?«, sagte die Schwester und wandte sich der Treppe zu. »Immer hübsch langsam.«
Der Verband über Allies linkem Auge war fort, das Auge war zwar noch geschwollen, aber wenigstens konnte sie damit jetzt etwas sehen. Am Haaransatz, wo sie von irgendwas getroffen worden war, prangte eine lange Naht. Die linke Schulter war noch immer in Gips, der den Arm in einem unnatürlichen Winkel abstehen ließ.
»Okay«, erwiderte sie, machte kehrt und begann, in die andere Richtung zu wanken.
… fünf Schritte, sechs, sieben …
»Darfst du überhaupt allein hier rumspazieren?«
An der Treppe stand Carter und beobachtete ihre mühsamen Fortschritte.
»Solange ich es nicht übertreibe …«
»Und, übertreibst du es?« Seine Augen sahen traurig aus.
»Vermutlich.«
»Hab ich mir gedacht.«
»Wie geht es dir?« Besorgt betrachtete sie sein Gesicht. »Seit … du weißt schon … Nach alldem.«
Seit Jos Tod hatte sie ihn nur einmal gesehen, und da hatte er blass und verloren gewirkt. Doch damals war sie selbst noch so in ihrem Kummer versunken gewesen und stand so unter Schmerzmitteln, dass ihr nichts Vernünftiges eingefallen war, das sie hätte sagen können.
»Ich kann kaum glauben, dass
du
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