Nightschool. Du darfst keinem trauen
Augen. Plötzlich merkte sie, dass sie kaum atmen konnte. Sie hatte seit Wochen keine Panikattacke mehr gehabt, doch jetzt auf einmal schnappte sie dreimal hintereinander nach Luft, während sie mühsam versuchte, sich über Wasser zu halten.
Ich krieg keine … Luft mehr …
Sie ging für kurze Zeit unter und strampelte mit aller Kraft, um wieder über Wasser zu kommen. Ein fremder Fuß traf sie am Schienbeinknochen, der Schmerz schoss ihr durchs Bein. Doch sie schrie nicht auf, dafür hatte sie nicht mehr genug Luft.
Wieder schlug das kalte Wasser über ihrem Kopf zusammen, und wieder mühte sie sich verzweifelt, an die Oberfläche zu kommen. Diesmal jedoch griffen zwei starke Hände nach ihren Schultern und zogen sie nach oben. Dankbar öffnete sie die Augen, doch als sie sah, wer ihr Retter war, versuchte sie sich gleich wieder freizustrampeln und zugleich mit den Händen ihre Brüste zu bedecken.
»Alles in Ordnung, Allie. Schau mich an.« Carters Stimme war ruhig und gebieterisch, seine Augen ruhten fest auf ihren. »Langsam durch die Nase atmen. Schau mich an. Langsam ein- und ausatmen.«
Sie wollte ihm erklären, dass sie gerade dabei war zu ersticken, doch sie brachte kein Wort heraus.
»Einatmen«, sagte er und machte es ihr vor, während seine Augen sie anhielten, es zu versuchen. »Und jetzt ausatmen – so.« Er stieß heftig Luft aus.
Sie versuchte, es ihm nachzumachen, brachte aber nur ein Keuchen zustande, das wenig bewirkte. Angst stieg in ihr auf, sie würde es nicht schaffen.
Aber das ist schon okay. Ich muss mich nur kurz mal ausruhen …
Flackernd schlossen sich ihre Lider, und Dunkelheit umfing sie.
Da verpasste Carter ihr eine Ohrfeige, die sie derart zusammenzucken ließ, dass sie reflexhaft tief einatmete, und diese plötzliche Zufuhr von Sauerstoff flößte ihr neuen Mut ein.
»Du kannst das, Allie. Atme mit mir.« Als sie merkte, wie sehr er sich Mühe gab, mit ruhiger Stimme zu sprechen, begriff sie, dass sie vielleicht wirklich kurz davor war zu sterben.
Er atmete tief ein, und sie versuchte wieder, es ihm nachzumachen. Diesmal gelangte ein wenig Luft in ihre Lunge.
»Gut!«, sagte er. »Noch mal.«
Sie atmete noch einmal, tiefer diesmal, und spürte, wie sich der Druck auf ihrem Brustkorb zu lösen begann. Carter schob sie weiter, doch sie zitterte jetzt heftig, und beim vierten erfolgreichen Atemzug brach sie in Tränen aus.
»Alles wird gut, Allie«, sagte er und legte ihr sanft seine Arme um die Schultern. »Einfach weiteratmen.«
Er schirmte sie mit seinem Körper ab und führte sie aus dem Wasser ans Ufer. Sie hörte die anderen lachen und planschen, doch Allie wusste nicht und wollte auch nicht wissen, ob sie über sie lachten. »Wo sind denn deine Klamotten?«, fragte Carter sanft.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie heiser.
Er lächelte verhalten: »Komisch, wieso überrascht mich das nicht?« Er führte sie hinter einen großen Baum, abseits des Trubels. »Du bleibst hier. Ich hol dir was zum Anziehen.«
Kurz bevor er in der Dunkelheit verschwand, bemerkte sie die Muskeln an Hüften und Rücken. Sie zwang sich, weiterzuatmen.
Wie schön er ist , dachte sie.
Als er ein paar Minuten später zurückkam, trug er Shorts. Für sie hatte er ein Jungen-T-Shirt und Mädchen-Shorts mitgebracht.
»Was Besseres konnte ich nicht auftreiben«, sagte er entschuldigend.
Wie er so mit nacktem Oberkörper dastand, kam Allie der Gedanke, dass das T-Shirt vielleicht ihm gehörte.
Sie wandte sich ab und zog die Shorts an, dann drehte sie sich wieder um und streckte die Hand aus, um das T-Shirt in Empfang zu nehmen. Wortlos gab er es ihr. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht sehen, doch als sie das zu große T-Shirt überstreifte, spürte sie ihr Herz so wild in der Brust klopfen, dass sie dachte, er müsse es bestimmt auch hören.
»Fertig?«, fragte er. Sie merkte, dass seine Stimme zitterte.
»Ja.«
Er geleitete sie auf den Weg zurück. Seine Hand fühlte sich angenehm warm an, und sie hielt sich gern an seinen starken Fingern fest.
»Ich konnte keine Schuhe für dich finden«, sagte er entschuldigend. »Wird ziemlich unangenehm an den Füßen werden – möchtest du meine Schuhe? Oder soll ich dich tragen?«
Obwohl die spitzen Steinchen sich in ihre Fußsohlen bohrten, lehnte sie ab: »Ist schon okay«, sagte sie.
Je weiter sie sich vom See entfernten, desto leiser wurden Lärm und Gelächter hinter ihnen. Bald hörten sie nur noch ihren eigenen Atem.
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