Nightschool. Du darfst keinem trauen
sie in Isabelles besorgte Augen sah, wurde Allie von einer Flut widersprüchlicher Gefühle übermannt. Sie wollte um Ruth weinen, aber auch um ihrer selbst willen. Und sie wollte die Internatsleiterin dafür umarmen, dass sie sich so um sie kümmerte. Doch sie verkniff sich die Tränen und nickte nur, um anzuzeigen, dass es ihr gut ging. Isabelle drückte noch einmal Allies Hände, dann richtete sie sich wieder auf.
»Okay, ihr beiden«, sagte sie, wieder ganz geschäftsmäßig. Sie gab ihnen ein Klemmbrett, an dem eine Schnur mit Bleistift befestigt war. »Ich muss sicherstellen, dass keiner fehlt. Wir sind insgesamt 52 Schüler in diesem Trimester. Identifiziert jeden, den ihr findet. Sucht nur hier unten im Erdgeschoss, im Hauptgebäude – nicht in den Flügeln und nicht in den oberen Stockwerken. Und geht unter keinen Umständen.«
Isabelle wandte sich ab und widmete sich einer Gruppe Lehrer, die sie mit Fragen bestürmte.
Zunächst waren Allie und Jo überfordert – es war stockdunkel, und die Leute hasteten wie Schemen an ihnen vorbei. Doch dann dachten sie sich ein System aus und hakten zunächst die Namen all derer ab, die sie schon gesehen hatten, um dann mit den Schülern fortzufahren, die sie nicht namentlich kannten.
Die Arbeit beruhigte ihre Nerven. Sie wanderten von einem Raum zum anderen und hakten Namen für Namen von ihrer Liste ab. Nach ungefähr einer Stunde kam der Strom wieder, was ihnen die Aufgabe erleichterte. Es hing immer noch ein bitterer Brandgeruch über allem, doch die Luft wurde allmählich besser.
Während sie so durch die Räume zogen, empfand Allie ein merkwürdiges Gefühl der Distanziertheit, so als sähe sie sich selbst im Fernsehen zu. Ihr Körper bewegte sich, doch sie fühlte sich nicht verbunden mit seinen Handlungen.
Als die Sonne aufging, fehlten noch 21 Schüler, darunter Gabe, Carter, Sylvain, Jules und Lucas.
»Was glaubst du, wo die sind?«, fragte Allie.
»Night School«, sagte Jo mit müder Stimme und rieb sich die Stirn. »Die sind alle in der Night School. Wir haben überall nachgeguckt – mehr werden wir nicht finden. Lass uns das Ding abgeben.«
Nachdem sie Speisesaal und Bibliothek abgesucht hatten, fanden sie Isabelle schließlich im leeren Rittersaal, wo sie mit Jerry und Eloise stand. Der Gestank von angesengtem Holz und Putz war hier noch stärker und löste Übelkeit aus. Im Saal funktionierte der Strom noch nicht, und der Generator war inzwischen ausgeschaltet worden, sodass es etwas schummerig war und man schlecht sehen konnte. Von den Gängen drang schwaches Licht herein und fiel auf die Rußpartikel, die immer noch in der Luft tanzten. Wie kleine schwarze Kristalle , dachte Allie. Sie sah, dass eine Saalwand bis zur Decke hinauf komplett schwarz war. Hier und da schwelten noch kleinere Schutthaufen. Doch abgesehen davon war der Schaden weit geringer, als sie erwartet hatte.
Isabelle überflog die Liste rasch und reichte sie dann Jerry, der sie sich ansah und nickte.
»Danke, ihr zwei«, sagte Isabelle. »Das habt ihr prima gemacht.«
»Aber es fehlen doch noch so viele«, protestierte Allie.
Isabelle hatte Ringe unter den geröteten Augen. Sie sah müde aus, und Allie bekam sofort ein schlechtes Gewissen, sie belästigt zu haben.
»Wir wissen, wo sie sind, und es geht ihnen gut«, sagte sie und legte ihren Arm um Allie. »Du musst dir keine Sorgen um sie machen.«
»Das sind alles Night-School-Schüler, oder?« Jo hatte die Arme fest vor dem Oberkörper verschränkt.
»Du weißt genau, dass wir mit dir nicht über die Night School reden können, Jo. Aber ich denke, du kennst selber die Antwort auf deine Frage«, erwiderte Eloise scharf.
Jo ließ sich nicht beirren. »Tut mir leid, Eloise, aber ich fände es schon gut, wenn wir angesichts der Umstände mal ein bisschen ehrlicher miteinander umgehen würden als sonst.«
Isabelle drückte sachte Allies Schulter und wandte sich dann Jo zu. »Und eine Menge Lehrer würden dir da recht geben«, sagte sie zu Allies Überraschung. »Aber jetzt müssen wir erst mal die nächsten 24 Stunden überstehen.«
»Wie viele sind denn … ums Leben gekommen?«, fragte Allie mit leiser Stimme.
»Eine Mitschülerin, Allie«, antwortete Isabelle mitfühlend. »Und es tut mir sehr leid, dass du das mit ansehen musstest. Wenn du mit irgendjemandem darüber sprechen möchtest – wir sind jederzeit für dich da.«
Allie, die gedacht hatte, dass sie nichts empfinden könne, stellte überrascht
Weitere Kostenlose Bücher