Zorn - Tod und Regen
Eins
»Glauben Sie mir«, sagte der Mann und betrachtete nachdenklich das Messer, »je schneller wir das alles hinter uns bringen, umso besser für uns beide.«
Langsam kämpfte sie sich durch den Nebel, und jetzt, da sie zu sich kam, versuchte sie zuerst, die Augen zu öffnen. Was ihr mit einiger Mühe gelang.
Er saß ihr gegenüber, zwischen ihnen ein schmieriger Holztisch, eingetrocknete Weinflecken, sein Gesicht höchstens einen halben Meter von ihrem entfernt. Ein feuchter, grob verputzter Raum. Fensterlos. Kahl, wie eine Gefängniszelle. Sie roch sein Aftershave. Und etwas anderes, Metallisches.
»Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass Sie früher wieder bei Bewusstsein sind.« Das klang fast vorwurfsvoll. Er lehnte sich ein wenig zurück, der Stuhl antwortete mit einem leisen Ächzen. »Schließlich habe ich Sie bereits vor knapp drei Stunden niedergeschlagen.«
Sie hörte deutlich, was er sagte. Was genau er allerdings damit meinte, verstand sie nicht. Das Denken fiel ihr schwer, es war wie am frühen Morgen, wenn der Wecker klingelt und man für ein paar Sekunden glaubt, bereits seit Ewigkeiten wach zu liegen, und noch keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie hatte das Gefühl, zwischen Traum und Wirklichkeit zu treiben, knapp unter der Oberfläche eines lauwarmen, übelriechenden Sees, der sich irgendwo zwischen den Dimensionen befinden musste.
Ihre Hände und Füße waren mit Kabelbindern an einen Stuhl gebunden, dessen Lehne ungewöhnlich hoch zu sein schien. Um Hals und Stirn hatte er ihr dünne Lederriemen geschnallt, die an den Querstreben hinter ihr befestigt waren.
Vorsichtig versuchte sie, den Kopf zu bewegen.
Nichts.
Etwas musste er ihr in den Mund gestopft haben. Keuchend rang sie nach Atem, wartete auf die Panik, stattdessen spürte sie eine seltsame Euphorie. Wie damals, als sie ihren ersten (und einzigen) Joint geraucht hatte. Wie lange war das jetzt her? Dreißig Jahre?
»Wenn Sie sich übergeben, ersticken Sie. Hören Sie mich? Ich kann den Knebel nicht lösen. Und die Fesseln auch nicht.«
Er sprach leise, als würden sie an einem warmen Frühlingsabend in einem Straßencafé sitzen. Gleich kommt der Kellner, dachte sie, nein, es ist ein französisches Restaurant, verbesserte sie sich, wie heißen da die Kellner? Garçon? Ja, und er empfiehlt uns Eistörtchen zum Nachtisch. Nein, nicht Eistörtchen, was essen Franzosen zum Nachtisch? Himmelherrgott, warum war ich noch nie in Frankreich?
Wieder dieses seltsame Hochgefühl.
Was hast du mir gegeben? Und was willst du von einer fünfzigjährigen, übergewichtigen Deutschlehrerin, die seit dreizehn Jahren und vier Monaten keinen Mann hatte? Was?
Es war absolut still im Raum, abgesehen von ihrem angestrengten Atmen. Zwischen ihren Schläfen dröhnte ein hektisches Pochen, sie hatte Durst und spürte, wie etwas Klebriges, Feuchtes an ihren Beinen hinunterlief.
»Sie wissen natürlich nicht, warum Sie hier sind. Aber Sie können mir eines glauben«, er legte die Fingerspitzen aneinander, »das alles hier ist kein Zufall. Kein Zufall.«
Er hat ein bisschen was von diesem amerikanischen Schauspieler, dachte sie. Der, der wahrscheinlich als Rentner noch aussehen wird wie ein Teenager. Sie kam nicht auf den Namen, doch irgendwie musste sie sich erinnern, wie er hieß, es gab im Moment nichts Wichtigeres. Sie kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich und wunderte sich selbst über ihre Erleichterung, als es ihr endlich einfiel: Johnny Depp. Nein, dachte sie dann, nicht Johnny Depp, was für ein Schwachsinn. Seine Augen sind ganz anders und haben nicht dieses tiefe Kastanienbraun, das ich so mag. Und er scheint größer zu sein, und irgendwie unbeholfener.
Aber die Ausstrahlung ist ähnlich. Dieses Traurige, Schwermütige.
Ein hysterisches Kichern stieg in ihr auf, ich bin von einem melancholischen Psychopathen entführt worden. Das Kichern ging in ein würgendes Husten über, die Luft wurde knapp, gelbe Punkte tanzten vor ihren Augen, wurden zu einem flammenden, kreischenden Rot, sie zerrte an ihren Fesseln, die sich immer fester in ihr Fleisch gruben. So ist es also, wenn man sich totlacht, dachte sie und spürte erleichtert, wie sie langsam wieder wegtauchte.
Er beugte sich vor und schlug ihr mit der flachen Seite des Messers leicht, fast spielerisch auf den rechten Unterarm.
»Atmen Sie durch die Nase. Und bleiben Sie ruhig.«
Schnaufend holte sie Luft.
»Besser?«
Ich fühle mich, als hätte ich einen feuchten Hamster
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