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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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hatte, war nichts mehr da. Nichts! Es war, als habe Nilowsky sie mitgenommen, irgendwohin, wo auch immer er sein mochte.
    Carola löste sich von mir. Versuchte ein Lächeln. Das Lächeln gelang ihr nicht. »Wird schon«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Es hörte sich nicht so an, als würde sie daran glauben.
    Noch einmal dachte ich daran, ihr von meinem Traum zu erzählen. Aber mir war klar, dass es keinen neuen Anfang mit uns geben würde, und deshalb kam mir der Traum nur noch absurd vor.
    »Ich wünsch dir alles Gute«, sagte Carola und reichte mir die Hand.
    Wir schüttelten uns die Hände, es war, als besiegelten wir einen Vertrag, den wir eben geschlossen hatten. Dann ging sie weiter die Böschung hinunter. Ich blieb stehen und schaute ihr nach. Erst als sie in der Bahndammunterführung verschwunden war, ging ich ebenfalls los, in die andere Richtung.

44
    Carola suchte mich nicht mehr auf. Und ich rechnete auch nicht damit. Einzig wenn Nilowsky doch wieder zurückkehrte, dachte ich, würde sie vielleicht aufs Neue vor meiner Haustür stehen.
    Dass er zurückkehrte, schien mir allerdings ausgeschlossen. Endgültig – so hatte es Carola gesagt. Ich war mir sicher, dass sie recht hatte.
    Nach vier Wochen fuhr ich noch ein Mal in die Klement-Gottwald-Allee. Carolas Name stand nicht mehr auf dem Klingelschild. Ich erkundigte mich im Haus und erfuhr, dass sie fortgezogen war; wohin, konnte man mir nicht sagen. Ich war nicht überrascht. Ich spürte Erleichterung. Ich war erleichtert, nicht mehr verliebt zu sein.
    Nur der Traum mit Carola war mir inzwischen eine Bürde. Ich wollte ihn vergessen. Um ihn zu vergessen, schrieb ich ihn auf. Indem ich ihn aufschrieb, begann ich, ihn zu verändern. Doch dadurch, dass ich ihn veränderte, wurde mir klar, dass ich ihn nicht würde vergessen können.
    Ich ließ Carola, während sie sang und vor mir hersprang, ein ausgeblutetes Huhn ohne Kopf in der Luft herumschwenken und plattgefahrene Groschen über den Waldboden streuen. Ich ließ einen Schwarm dünner, langbeiniger Tanzfliegen um sie herumschwirren.Vor allem aber ließ ich anstelle meiner Nilowsky hinter ihr herrennen. Er hatte Brandspuren an den Händen und im Gesicht, doch er war glücklich, so glücklich wie ich ihn nie gesehen hatte. Als er sie erreicht hatte und die beiden gleichauf waren und dicht nebeneinander liefen, ging ich zurück zur Baracke und sah, wie der alte Nilowsky, ohne ein Wort, ohne auch nur einen einzigen Laut, sich mehr und mehr zusammenkrümmte und langsam verbrannte.

45
    Ein Mal, ein einziges Mal habe ich Carola wiedergesehen. Es war vierzehneinhalb Jahre nach unserem letzten Abend am Bahndamm. Ich fuhr mit dem Auto durchs vorsommerliche Westberlin und sah an einer Straßenkreuzung in Charlottenburg eine Frau stehen, die mit ihren langen hellroten Haaren und einem eleganten dunkelgrünen Kleid die Schönheit einer Tulpe hatte. Erst als ich an der Kreuzung halten musste, erkannte ich, dass es sich um Carola handelte. Im selben Moment winkte sie mir zu, als wären wir verabredet. Verblüfft wie ich war, öffnete ich die Beifahrertür. Carola stieg ein, ich fuhr weiter, dann mussten wir gleichzeitig lachen über die merkwürdige Selbstverständlichkeit dieses Vorgangs.
    »Ich wusste doch«, sagte sie, »dass wir uns irgendwann übern Weg laufen würden.«
    Sie strahlte die aufgeräumte Souveränität einer erwachsenen Frau aus. Nichts mehr erinnerte mich an das Koboldmädchen von damals.
    »Ja«, behauptete ich, »habe auch oft dran gedacht.«
    Tatsächlich jedoch hatte ich mich gezwungen, nicht mehr an Nilowsky oder Carola zu denken. Sie gehörten zu einer Phase meines Lebens, die ich schon lange als abgeschlossen hatte empfinden wollen.
    »Hast du Reiner mal wiedergesehen?«, fragte Carola.
    »Nein«, antwortete ich. »Und du?«
    »Ja, klar«, sagte sie, als wäre nichts naheliegender als das. »Du kannst ihn übrigens auch sehen. Jeden Abend, jede Nacht. In seiner Kneipe. Gar nicht weit von hier.« Sie kostete meine Verblüffung aus. »Da staunst du, was? Besuch ihn mal, dann wird er dir erzählen, dass er damals, nur wenige Wochen nachdem er fort war, in den Westen geflüchtet ist. Stundenlang wird er dir von dieser wahnsinnigen, abenteuerlichen Flucht erzählen. Tja, die große Nummer seines Lebens. Er zog nach Apulien, bis er festgestellt hat, dass Olivenhaine pflegen auch nicht die Erfüllung ist, die er sich erhofft hatte. Also ist er nach Westberlin. Erst

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