Nilowsky
Stadtpläne vom Staat gefälscht werden, hast du das noch nie gehört? Damit die Bevölkerung nieweiß, wo sie sich eigentlich befindet, ganz zu schweigen von den Zügen, die immer woanders hinfahren als auf den Plänen angezeigt. Hast du davon noch nichts gehört?«
»Nein«, antwortete ich und war mir sicher, dass es das einzig Richtige war, ihm in diesem Punkt nicht zu widersprechen. Stattdessen fragte ich: »Was machst du denn mit den verwandelten Groschen?«
»Was ich mit denen mache? Ganz einfach: Die sind mein Schatz, den hüte und beschütze ich, den Schatz, wie’s sich eben gehört. Dafür wird er mich beschützen, wenn’s drauf ankommt, das wirst du schon noch erleben, wirst du das.«
Er sagte es mit einem Trotz, dem etwas Optimistisches anhaftete, und ich dachte in diesem Moment daran, wie ich ihn, Reiner Nilowsky, ein paar Wochen zuvor überhaupt zum ersten Mal gesehen hatte. Kerzengerade hatte er hinterm Fenster vom Bahndamm-Eck gestanden, dessen Gardine zur Seite gezogen war. Er hatte ein Bierglas trocken geputzt und dabei neugierig abschätzend zu mir geschaut.
Ich war gerade von der Ladefläche des Umzugswagens gestiegen, doch bevor ich auf seinen Blick reagieren konnte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Ich sah nicht den Menschen, der zu dieser Hand gehörte, ich sah nur, wie die Hand ihn vom Fenster wegzog und Nilowsky sich zu diesem Ausdruck optimistischen Trotzes durchrang, den ich noch öfter an ihm wahrnehmen sollte.
2
Die Wohnung, in die wir, meine Eltern und ich, im September 1976 zogen, befand sich im dritten Stock des Eckhauses, in dem auch das Bahndamm-Eck war. Von meinem Zimmer aus sah ich den Bahndamm, kaum mehr als fünfzig Meter entfernt. Hundert Meter weiter stand das Chemiewerk, in dem mein Vater als leitender Ingenieur arbeitete. Diese neue, herausfordernde Arbeit, wie er sie nannte, auf dem Gebiet der Pharmazie, war der Grund für unseren Umzug gewesen. Ich hatte sein Fach, die Chemie, nie gemocht, nun aber hasste ich es. Ich hatte nicht aus Prenzlauer Berg fortziehen wollen, wo ich geboren worden war und mich wohl fühlte. Und schon gar nicht hatte ich an den Rand von Berlin gewollt, zu den laut ratternden Zügen, die das Eckhaus von unten bis oben zum Vibrieren brachten, zu den Schwefelabgasen, die sogar durch die Ritzen der geschlossenen Fenster drangen.
Nicht nur mein Vater, auch meine Mutter war glücklich mit dem Umzug. »Endlich mal ein kurzer Arbeitsweg«, sagte sie. »Und das bisschen Geruch – gar nicht der Rede wert.«
Kein Wunder, sie war Sekretärin in einem kleinen Büro gewesen, in dem es nach jahrzehntealten Aktenordnern roch. Jetzt arbeitete sie in diesem Chemiewerk als Chefsekretärin des Betriebsdirektors.
Von meinem Fenster aus sah ich meine Eltern, wie sie frohgemut, ja beinahe wie frisch verliebt das Haus verließen und durch die Bahndammunterführung in Richtung Chemiewerk gingen. Eine Stunde später musste ich zur Schule, in meine neue Klasse, in der ich ebenso wenig heimisch werden wollte wie in diesem Haus am Bahndamm. Nach der Schule fuhr ich ein ums andere Mal nach Prenzlauer Berg, um ehemalige Klassenkameraden zu treffen oder einfach durch die Straßen zu ziehen. Wenn ich abends von der S-Bahn-Endstation nach Hause lief, schaute ich bewusst nicht nach links und rechts, als sei jeder Blick auf meine neue Umgebung Verrat an meinen Gefühlen.
Eines späten Abends, drei Wochen nach unserem Umzug, war die Gardine des Kneipenfensters wieder zur Seite gezogen. Ich deutete das als Zeichen, und so kam ich ein Stück von meinem selbstverordneten Desinteresse ab und blickte durchs Fenster in die Kneipe. Ich sah Nilowsky hinterm Tresen Gläser spülen und Bier eingießen. Ich sah drei alte Männer an einem fleckigen Sprelacarttisch Karten spielen, ein vierter lag rücklings auf mehreren nebeneinandergestellten Stühlen. Er schnarchte, wie ich an den Bewegungen seines Mundes erkennen konnte. Einer der Kartenspieler rüttelte an ihm, aber der Mann schnarchte weiter. Nilowsky musste mich aus den Augenwinkeln wahrgenommen haben, denn er gab mir mit einer knappen Bewegung seines Kopfes ein Zeichen hereinzukommen. Als ich zögerte, lief er zur Tür hinaus und sagte: »Komm rein! Draußen servier ich kein Bier.«
Das hatte nichts von der Umständlichkeit, mit der er später oftmals redete. Das hatte den bärbeißigen Witzeines Wirtes oder eben eines Siebzehnjährigen, der so tut, als sei er ein Wirt.
»Wer bist du denn?«, rief mir einer der
Weitere Kostenlose Bücher