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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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Baracke war nicht wieder aufgebaut worden. Dort, wo sie gestanden hatte, war eine Lichtung. »Würde mich schon interessieren, wo die Angolaner untergebracht sind«, sagte ich.
    »Sicherlich in einer feuerfesten Unterkunft«, meinte Carola und grinste. Dieses Grinsen hatte etwas Leichtes, Übermütiges, und wieder überlegte ich, ob ich ihr von meinem Traum erzählen sollte. Aber auch diesmal entschied ich mich dagegen. Später. Später würde noch genug Zeit sein.
    »Na los«, drängte Carola, »lass uns zum Bahndamm gehen. Da müssen wir noch hin, keine Frage.«
    Wir machten einen Bogen ums Bahndamm-Eck , um nicht einem der Säufer zu begegnen, der uns vom herumspukenden Karl-Heinz Nilowsky erzählt hätte. Dann stiegen wir die Böschung zu den Schienen hinauf,und wenn ich schon vorher das Gefühl gehabt hatte, jeden Moment von Reiner überrascht werden zu können, so wurde dieses Gefühl nun noch stärker. Ich stellte mir vor, wie er fragen würde, ob wir ihn gesucht hätten. Natürlich würde ich vor lauter Beklemmung Carola die Antwort überlassen und hoffen, dass er von uns nicht verlangen würde, ihn vor den nächsten Zug zu stoßen.
    Kaum standen wir auf dem Bahndamm, schloss Carola die Augen und atmete die nach Schwefelwasserstoff stinkende Luft ein.
    »Meinst du«, fragte sie, »dass der Schwefelwasserstoff zu Schwefel und Wasser verbrennt, wenn man seine ganze Körperwärme einsetzt, meinst du, das geht und gibt obendrein Kraft?«
    »Ja«, antwortete ich. Es hatte, wie ich fand, etwas Feierliches und Würdevolles, ganz einfach nur Ja zu sagen.
    »Und meinst du auch, dass der Schwefelwasserstoff zwar giftig, aber gut für den Blutdruck ist?«
    »Ja«, antwortete ich noch einmal und atmete ebenfalls tief ein.
    »Der Neunfünfunddreißiger«, stellte Carola fest, »gleich kommt der Neunfünfunddreißiger.«
    Sie öffnete die Augen, holte ein paar Groschen aus ihrer Handtasche und legte sie auf die Schienen.
    Der Neunfünfunddreißiger kam, pünktlich auf die Minute. Wir liefen ein Stück die Böschung hinunter, trotzdem riss uns der Zugwind fast die Haare vom Kopf. Carola packte meine Hand. Sie lachte und schrie, als wäre das Schreien die einzige Möglichkeit, nicht taub zu werden vom Dröhnen und Rattern des Zuges.
    Kaum dass der Zug vorbei war, verkündete sie: »Die verwandelten Groschen, die lassen wir auf den Schienen.Da lassen wir die. Spuren von ihnen bleiben an den Rädern der Züge kleben und fahren nach Frankreich, nach Spanien, nach Portugal …«
    Auf einmal betrübte es mich, dass Carola exakt so sprach wie Nilowsky. Als könne sie überhaupt nicht anders über Groschen und Züge und Spuren reden. Als würde sie das niemals anders können. »Ja«, sagte ich. »So ist es. Genauso ist es.«
    Ich ärgerte mich, dass ich ihr einfach nur beipflichtete. Als wäre Nilowskys Sprache so etwas wie ein Klebstoff zwischen uns, ohne den wir noch nicht einmal in der Lage wären, hier zusammen am Bahndamm zu sein.
    Wir werden ihn nicht los, dachte ich, niemals; doch kaum hatte ich es gedacht, fiel mir auf, wie falsch dieser Gedanke war. Wir waren ihn ja los, sogar für immer, sofern Carola recht hatte. Er, Reiner Nilowsky – so wurde mir mit einem Mal klar – war unser Klebstoff gewesen. Und keinen anderen würde es jemals geben, der uns zusammenhalten könnte.
    Ich musste lachen über diesen Vergleich, der mir ziemlich banal vorkam, aber gerade dadurch irgendwie überzeugend.
    »Was ist los?«, fragte Carola. »Ich möchte gerne mitlachen.«
    »Nichts«, antwortete ich. »Ich dachte nur grad was. Ist schon wieder vorbei.«
    »Vielleicht ist es das, was ich auch grad dachte«, sagte Carola und zog mich zu sich heran. »Komm, wir küssen uns. Jetzt küssen wir uns. Oder?«
    »Ja«, hörte ich mich antworten.
    Ich hatte kein Gefühl, das zu dieser Antwort gepasst hätte. Doch ehe ich darüber nachdenken konnte, fassteCarola meinen Kopf und küsste mich auf den Mund. Sie öffnete ihre Lippen, darauf öffnete ich meine. Ich hoffte, ein Gefühl würde sich nun einstellen, vielleicht sogar so etwas wie Lust. Aber als sich unsere Zungen berührten, fühlte ich mich allenfalls wie jemand, der eine Rolle spielt, eine Rolle, zu der es wohl oder übel gehört, eine Frau zu küssen. Diese Frau wirkte auf einmal schüchtern und unsicher. Offenkundig wusste sie nicht mehr, wozu dieser Kuss sein sollte. Und ich wusste es auch nicht. Von meiner Verliebtheit, die ich immer wieder so unabwendbar und verunsichernd erlebt

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