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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gehen.
    Heute arbeite ich im Geschäft meiner Mutter.
    »Hawthorne’s Shop«.
    Klingt toll, nicht wahr?
    Wir verkaufen Blumen, Pflanzen und alles, was man so benötigt, wenn man es grün mag. Wir behaupten uns gut gegen die großen Einkaufszentren mit ihren bösartigen Mengenrabatten und kranken Pflanzen aus Übersee. Es ist uns noch genügend Kundschaft geblieben. Wir wollen nur überleben, und das gelingt uns gut. Die Leute kommen gern zu uns, und die meisten kommen, wenn sie einmal da gewesen sind, wieder. Das, was wir brauchen, haben wir. Hatten wir schon immer.
    Immer hatten wir einander.
    Das und die Natur.
    Für Mama war das wichtig.
    Und ich könnte mir kein Leben ohne Wiesen, Wälder und den Geruch von Tau und Morgen auf den Blättern vorstellen.
    Wenn ich nachdenken will, dann fahre ich Richtung Grenze. Dort finde ich richtige Stille und weite Nadelwälder mit duftenden Pinien und Fichten, durchwoben von starken Birken und hohen Pappeln. Ich mag die langen Spaziergänge, und manchmal sieht man sogar einen Fichtenmarder durchs Unterholz laufen. Trotz allem muss man aufpassen.
    »Du bist zu leichtsinnig«, mahnt Mama mich immer.
    Ich weiß, was sie meint.
    In Minnesota leben Weißwedelhirsche und überdies viele Elche, genug jedenfalls, um Wolfsrudel und Schwarzbären zu ernähren. Wenn man durch die Wälder streift, muss man eben immer die Augen offen halten.
    Ich weiß das.
    »Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen«, sage ich ihr immer, wenn sie mir ihre Bedenken hinterherruft. »Ich bin jetzt groß«
    »Bist du nicht.«
    »Bin ich doch!«
    »Nein.«
    »Ich bin fünfundzwanzig!«
    Das ist der Punkt, an dem sie meist lachen muss.
    »Trotzdem!«
    Mama ist immer erst dann beruhigt, wenn ich mich wieder bei ihr melde. Es gibt hier oben Gegenden, in denen die Mobilfunknetze vor der Wildnis kapitulieren. Dort bin ich am liebsten.
    So ist das.
    Das bin ich.
    Was ich gern mag, hat mich schon während der Highschool zu einer Außenseiterin gemacht. Mein Freund ist ein Anishinabe.
    »Keanu Chinook.«
    »Ein schöner Name.«
    »Du bist die Erste, die das sagt.«
    »Wenn es so ist.«
    Wir lernten uns am See kennen. Sechs Jahre liegt das jetzt zurück. Er war zum Angeln dort und ich lief einfach nur so durch die Gegend und genoss die Ruhe. Wir stellten fest, dass wir beide in Minneapolis studierten. Und bald danach stellten wir fest, dass wir ineinander verliebt waren. Wir fuhren oft zu den Seen und schwammen darin, bis es dunkel wurde. Im Ufergras liebten wir uns und lauschten danach dem Wind und den Grillen. Wenn ich bei Keanu bin, dann fühle ich mich frei und lebendig.
    Noch immer.
    Von den Sioux, den Ojibwe und den Anishinabe erzählte er mir. Von den Siedlern aus Europa und dem misslungenen Aufstand von 1862. Am Ende wurden viele Sioux in Mankato gehenkt, viele andere nach Nebraska verbannt. Keanu ist eine Truhe voller Geschichten. Und er küsst wie ein Gott. Ich liebe ihn, weil ich mich nicht verstellen muss, wenn ich bei ihm bin.
    »Du bist Scarlet«, sagte er, »und du bist widerspenstig.« Dann beugte er sich über mich und küsste mir die Stirn, die Nasenspitze. »Niemals sollst du anders sein.«
    Jetzt haben wir beide unser Studium beendet.
    Seit einem halben Jahr hilft Keanu in der Gärtnerei aus. Es ist schön, ihn immer dort zu haben. Es ist schön, ihn aus dem Bad kommen zu sehen, wenn die Arbeit vorbei ist.
    Wenn ich aufstehe, dann ist er meistens schon dort, irgendwo zwischen den Säcken mit Erde und den Blumenkübeln. Ich finde ihn inmitten all der Blüten, deren Namen schon früher meine Phantasie beflügeln konnten. Der Laden ist ein Meer aus Pfingstrosen, Tränenden Herzen, Rittersporn und Türkischem Mohn. Weiter hinten, im Gewächshaus, riecht es nach Mädchenauge und Sonnenbraut und Brennender Liebe, nach Schafgarbe, Katzenminze und Astern. Mama hat mir die Bedeutung all dieser Pflanzen erklärt. Das, was sie nicht wusste, hat mir Keanu gesagt.
    Er hat so viele Geschichten zu erzählen. Von den Indianern, denen dies alles, worauf wir leben, einmal gehörte. Die ehrten, was die Natur ihnen gab. Die wussten, was wir vergessen haben.
    Das Gewächshaus ist ein grüner Dschungel, und in den Wintern, die in dieser Gegend bitterkalt sind, gehe ich oft dorthin, um zu lesen.
    »Sie hat mich gefragt, ob ich dich heiraten will«, sagte Keanu eines Tages, nicht verärgert, sondern belustigt.
    »Mama?«
    Er nickte.
    Ich war stinksauer!
    »Wie kannst du ihn so was fragen?«, herrschte ich sie an, keine

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