Nimmermehr
halbe Stunde, nachdem ich es erfahren hatte.
»Ich habe nur gefragt.«
»Das ist unsere Sache.«
»Ich dachte ja nur …«
»Du hast Papa auch nicht geheiratet.«
Jetzt war es raus.
Sie zog ein Gesicht, und sofort tat mir leid, was ich gesagt hatte. Das war einer der Momente, in denen mir auffällt, dass es nicht mein Gesicht ist, in das ich blicke, wenn ich sie anschaue. Die Haarfarbe, ja, die gehört zu mir. Aber nicht die Gesichtszüge. Und auch nicht die Haut. Mama sieht gesund aus und ist immer voller Sonne. Ich bin eher der blasse Typ.
Es sind diese Augenblicke, vor denen ich mich fürchte, weil sie mich zwingen, an das zu denken, woran es keine Erinnerung gibt.
»Wo ist Papa?« Ich weiß nicht, wie alt ich war, als ich ihr die Frage zum ersten Mal stellte.
»Weit fort, in einem fernen Land. Er besteht Abenteuer wie die Helden in den Büchern.« Es war das, was man einem kleinen Kind erzählt, das nichts vom Leben weiß und sich mit einem Märchen zufriedengibt. Später, als ich älter war, fielen die Antworten kürzer aus: »Das ist nicht wichtig. Du bist zu neugierig. Ich weiß nicht. Frag nicht!«
Dennoch – es ist nicht zu leugnen. Wenn ich in den Spiegel sehe, dann kann ich mir ausmalen, wie mein Vater wohl ausgesehen hat.
»Du bist hübsch«, sagte Mama oft. Aber sagen Mütter das nicht immer zu ihren Töchtern?
»Bin ich nicht«, widersprach ich ihr stets.
Ich bin blass und schlaksig und habe nie zu den Mädchen gehört, um die sich die Jungs in der Highschool prügelten. Ich war nie eine von denen, mit denen Jungs hätten angeben können. Dafür gab es andere, die besser aussahen.
Mein Gesicht ist zu schmal und zu kantig und zu ernst, um wirklich hübsch zu sein.
»Du bist wie Sommerregen«, hatte Keanu gesagt.
Dafür hatte ich ihn geküsst.
Nicht hübsch zu sein, ist schlimm, solange man auf der Highschool ist. Nicht zu wissen, wer sein Vater ist, kann einem aber richtig zusetzen. Auch wenn man sich schon erwachsen fühlt.
»Du weißt nichts über ihn?« Keanu, der die Geschichte seiner Ahnen gut kennt, hatte mich ganz verwundert angestarrt.
»Sie spricht nie über ihn.« Ich hatte mich von ihm in den Arm nehmen lassen.
Seine Hand hatte mit meinem Haar gespielt. Ich mochte das. Wenn Keanu das tat, dann war ich daheim. Dann gab es nur uns und die Stille, und alles andere war weit fort.
»Ich habe Angst, dass sie ihn nicht geliebt hat«, sagte ich einmal.
Keanu sah mich nur an, mit seinen dunklen Indianeraugen. »Du bist, wie du bist. Und du wärst nicht so, wenn sich deine Eltern nicht aufrichtig geliebt hätten.«
»Woher willst du das wissen?«
Er erzählte mir, was die Sioux glaubten.
Dass all die Gefühle, die Eltern füreinander hegen, in ihren Kindern weiterleben.
»Wenn Eltern sich hassen«, sagte er mir, »dann hassen sich auch die Kinder. Weil sie das, was sie sind, nicht akzeptieren können. So wenig, wie die Eltern den anderen akzeptiert haben. Wenn sich die Eltern aber lieben, dann lieben sich auch die Kinder.«
»Sie akzeptieren sich so, wie sie sind, meinst du das?«
Er nickte, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und küsste mich aufs Ohr. »Du bist Scarlet. Du bist außergewöhnlich. Du bist mein Sommertag. Und tief in deinem Herzen bist du froh darüber, so zu sein und nicht anders.«
Keanu findet für wirklich alles schöne Erklärungen.
Das tut er immer, das liegt ihm im Blut.
»Trotzdem wäre es toll, wenn ich mehr von meinem Vater wüsste.«
»Wünschst du dir das?«
»Ja.«
»Dann wird es geschehen.«
»Wann?«
Er lächelte. »Irgendwann, wenn du nicht daran denkst.«
Keanu macht mir manchmal Angst. Es gibt diese Augenblicke, in denen er fast weise wirkt. Doch dafür gibt es andere, in denen er hoffnungslos albern sein kann.
Auch gut.
Am Ende kam es aber so, wie er es mir prophezeit hatte.
Es war ein ganz normaler Tag, an dem die übliche Arbeit zu erledigen war. Man denkt immer, dass große Dinge sich ankündigen. Falsch! Tun sie nicht. »Wir müssen reden.« Ich kannte Mamas Stimme, jede Schwingung, und ich wusste, wann es ernst wurde.
Keanu war schon zum See hinaufgefahren.
Wir wollten uns dort treffen, am späten Nachmittag, und die Nacht über am Ufer zelten und angeln und allein sein. Vorher wollte er einige Ableger verschiedener Sträucher sammeln.
»Du wolltest nie darüber reden«, sagte ich zu ihr.
»Jetzt will ich aber.« Mama war zu mir nach hinten ins Gewächshaus gekommen.
»Warum gerade jetzt?«
»Frag nicht!«
Ich
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