Ninotschka, die Herrin der Taiga
Schritte vor ihnen stehen. »Betrachten Sie mich nicht als Ihren Feind. Fürstin, wir haben zuletzt beim Adventsball miteinander getanzt. Ninotschka Pawlowna, Ihr Vater ist ein Freund von mir. Ich stehe hier vor Ihnen, um Ihnen zu zeigen, daß ich als Mensch mit Ihnen empfinden kann.«
»Lassen Sie uns zu unseren Männern!« Die Fürstin Trubetzkoi senkte das glühende Holzscheit. »Nur ein paar Minuten. Nur einen Händedruck lang. Sie sollen wissen, daß ihre Frauen mit ihnen um Gerechtigkeit kämpfen.«
»Das wissen sie auch so.« General Lukow blickte die Frauen bewundernd an. Das ist unser unsterbliches Rußland, dachte er fast glücklich. Mit solchen Menschen kann man an der Ewigkeit bauen.
»Aber ich habe keine Order, die Gefangenen aus den Zellen zu lassen«, setzte er laut hinzu. »Ich habe gar keine Nachricht vom Zaren. Vielleicht wissen Sie mehr als ich.«
»Zar Nikolaus empfängt uns nicht!« Die Fürstin Trubetzkoi warf das Holzscheit hinter sich ins Feuer zurück. »Ich bin bereit, auf den Knien durch den ganzen Winterpalast zu kriechen …«
»Wann werden unsere Männer verurteilt?« fragte Ninotschka. Ihre helle Stimme klirrte, als zersprängen die Worte in der Kälte wie Glas, das man gegen eine Wand wirft.
»Auch darüber ist noch nicht entschieden. Der Untersuchungsrichter Awdej Iljitsch Saborow verhört sie noch.«
»Saborow ist ein Schwein!« Es war wenig fürstlich, was die Trubetzkoi sagte, aber trotz ihres langen Zobelmantels war sie jetzt nichts anderes als eine der Tausenden von russischen Frauen, deren Männer zum Tode verurteilt oder auf dem Weg nach Sibirien, in die lebenslängliche Verbannung waren.
»Wollen Sie weiter hier kampieren, meine Damen?« fragte Lukow. Er ahnte, daß der Zar bald den Befehl geben würde, die Frauen wegzujagen wie Ungeziefer. Was geschah dann? Wer sollte die Aktion leiten? Er, Lukow? Es war höchste Zeit, sich für diesen Fall nach einer guten Krankheit umzusehen, die ihn von aller Verantwortung entband. Wußte man, wie lange der Zar lebte? Kam die Zeit wieder, in der ein Zarenthron nichts anderes war als ein Richtblock? Rußland war reich an Zaren, die mit Gift und Dolch an die Macht kamen und ebenso endeten. Und jeder Sturz vom Thron riß eine Lawine von anderen Menschen mit sich. In einer von ihnen könnte dann auch Lukow sein.
»Wir werden so lange vor der Festung sitzen, bis wir unsere Männer sehen können«, sagte Ninotschka. »Und wenn man Reiter auf uns hetzt … Sollen sie nur kommen! Wir können genauso mutig sterben wie unsere Männer.«
Lukow seufzte, drehte sich um und stapfte zur Festung zurück.
Wenig später jagte ein Meldereiter aus dem Tor und verschwand im Nebel, der sich langsam über Petersburg senkte. Da viele Soldaten die Festung verließen, achtete niemand auf ihn. Aber dieser Reiter war der letzte verzweifelte Versuch General Lukows, eine Katastrophe abzuwehren.
Graf Koschkin ahnte nichts Gutes, als ein Geheimsekretär des Zaren ihm ein Schreiben des Allerhöchsten überbrachte. Ninotschka war wieder einmal in der Stadt, bei irgendeiner Schneiderin, hatte sie gesagt, und ihre Mutter, Gräfin Marina Iwanowna, saß in ihrem Salon mit ein paar Freundinnen zusammen und knüpfte einen großen Teppich für die im Bau befindliche St.-Isaaks-Kathedrale. Bei der Einweihung sollte er feierlich vor den Altar getragen werden, ein Geschenk der berühmtesten Familien von St. Petersburg.
Koschkin erbrach das kaiserliche Siegel des Schreibens und las die wenigen Zeilen. Es waren nur ein paar Worte, der Befehl, unverzüglich zum Zaren zu kommen.
»Ich kleide mich nur um«, sagte Koschkin heiser zu dem Geheimsekretär, der demütig an der Tür wartete. Der unpersönliche Ton des Schreibens verhieß nichts Gutes. »Ich folge Ihnen mit meinem Schlitten.«
Er läutete nach seinen Dienern, ließ sich seine alte Obristenuniform holen und fuhr dann in einem mit heißen Ziegelsteinen geheizten Schlitten zum Winterpalast. Der Sekretär des Zaren, der vorausritt, ließ alle Tore öffnen und den Schlitten ohne Kontrolle passieren. Im Innenhof halfen zwei Pagen dem Grafen Koschkin aus dem Schlitten und führten ihn in das Schloß.
Zar Nikolaus I. empfing Koschkin in der Bibliothek. Er saß an einem riesigen Schreibtisch und trug die Gardeuniform, die er schon als Großfürst getragen hatte. Er erhob sich, als Koschkin an der Tür militärisch grüßte und dann stehenblieb.
»Kommen Sie näher, Pawel Michailowitsch. Es bedurfte nicht der Uniform, um
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