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Noble House 02 - Gai-Jin

Noble House 02 - Gai-Jin

Titel: Noble House 02 - Gai-Jin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clavell
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Gedicht. In einen blauen Seidenkimono gehüllt, saß er an einem niedrigen Tischchen, auf dem eine Öllampe stand. Vor ihm lagen Bogen und Reispapier, Pinsel in verschiedener Stärke und eine Schale mit Wasser, um den Tintenblock aufzulösen, in dessen leicht ausgehöhlter Oberfläche sich inzwischen ein winziger, einladender Teich gebildet hatte.
    Die Abenddämmerung wurde zur Nacht. Aus der Burg weiter unten drang das beruhigende, gedämpfte Geräusch von Soldaten herauf, von Hufen auf Kopfsteinen, ein gelegentliches, kehliges Lachen, das mit dem Rauch und den Gerüchen von Kochfeuern durch die dekorativen Schießscharten in den dicken Mauern emporstieg.
    Dies war das Allerheiligste. Spartanisch. Tatamis, eine Tokonoma, die Shoji-Tür vor ihm so eingestellt und beleuchtet, daß er den Schatten einer jeden Gestalt wahrnehmen konnte, die sich draußen bewegte, er selbst von draußen aber nicht zu sehen war.
    Unmittelbar neben seinem Gemach lag ein weiträumiges Vorzimmer, von dem aus Korridore zu den anderen Schlafquartieren führten, die im Moment nur noch von Gefolgsleuten, Dienerinnen und Koiko, seiner besonderen Favoritin, bewohnt wurden. Seine Familie – Ehefrau mit zwei Söhnen und einer Tochter sowie Konsortin mit einem Sohn – weilten alle sicher und schwer bewacht zwanzig ri weiter nördlich in seiner befestigten Erbburg. Hinter diesem Vorzimmer gab es Wachen und weitere Räume mit weiteren Wachen, die alle auf seinen persönlichen Dienst eingeschworen waren.
    Er tauchte den Pinsel in die Tinte, hielt ihn einen Moment über das feine Reispapier und schrieb dann entschlossen:
    Schwert meiner Väter
In meinen Händen
Regt sich beklommen
    Er schrieb es in drei kurzen, senkrechten Reihen von Zeichen, mit kräftigen Strichen, wo sie kräftig sein mußten, mit weichen, wo Weichheit das Bild betonte, das die Zeichen vermittelten. Dabei hatte er keine Chance, auch nur den winzigsten Fehler zu kaschieren oder zu korrigieren, denn das Reispapier war so beschaffen, daß es die Tinte sofort aufsog und das Schwarz in unterschiedliche Grautöne verwandelte, je nachdem, wie der Pinsel und die darin enthaltene Wassermenge benutzt wurden.
    Gelassen begutachtete er sein Werk, die Plazierung des Gedichtes und das Gesamtbild, das die Schattierungen der schwarzen Kalligraphie inmitten der weißen Fläche boten.
    Es ist gut, dachte er ohne Eitelkeit. Vorerst kann ich es noch nicht besser; dieses Gedicht schöpft meine Fähigkeiten fast bis an ihre Grenze, wenn nicht sogar bis ganz an die Grenze aus. Und was ist mit der Bedeutung dieser Zeilen, wie sollten sie gelesen werden? Aha, das ist eine sehr wichtige Frage, das ist der Grund, warum es gut ist. Wird es aber bewirken, was ich beabsichtige?
    Diese Fragen veranlaßten ihn, den erschreckenden Stand der Dinge hier und in Kyōto zu rekapitulieren. Vor wenigen Tagen war die Nachricht eingetroffen, daß es dort zu einem unerwarteten, aber erfolgreichen Coup durch Choshu-Truppen gekommen war, durch den die Satsuma- und Tosa-Streitkräfte vertrieben wurden, die während der letzten sechs Monate in einem unsicheren Waffenstillstand die Macht gehalten hatten, und daß Lord Ogama von Choshu nun die Befehlsgewalt über die Palasttore ausübte.
    Bei einer hastig zusammengerufenen Sitzung des Rates war es zu Zornesausbrüchen gekommen, und Anjo hatte vor Wut fast Schaum vor dem Mund gehabt. »Choshu, Satsuma und Tosa! Immer wieder diese drei! Das sind die Hunde, die zerschmettert werden müssen! Ohne sie hätten wir alles unter Kontrolle.«
    »Richtig«, hatte Yoshi zurückgegeben. »Ich wiederhole, daß wir unseren Truppen in Kyōto befehlen müssen, die Rebellion auf der Stelle niederzuschlagen – ohne Rücksicht auf Verluste!«
    »Nein, nein! Wir müssen warten; wir haben nicht genug Streitkräfte dort.«
    Toyama, der Alte, rieb sich das graue Kinn und sagte: »Ich stimme Yoshi-donno zu. Krieg ist die einzige Möglichkeit. Wir müssen Ogama von Choshu zum Gesetzlosen erklären!«
    »Unmöglich!« hatte Adacho gesagt. »Ich stimme Anjo zu. Wir dürfen es nicht riskieren, alle Daimyos vor den Kopf zu stoßen. Damit würden wir nur erreichen, daß sie sich gegen uns verbünden.«
    »Wir müssen sofort handeln!« hatte Yoshi noch einmal betont. »Wir müssen unseren Truppen befehlen, die Tore zurückzuerobern und den Aufstand niederzuschlagen.«
    »Wir haben nicht genug Streitkräfte«, hatte Anjo hartnäckig wiederholt. »Wir werden warten. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.

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