Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
1
Er spürte das Brennen in den Armen, merkte, wie seine Beine immer schwerer wurden. »Du wirst es nicht bis zur anderen Seite schaffen«, raunte die Stimme in Piet Malherbes Hinterkopf. Er ignorierte ihre Einflüsterungen und zwang sich, den Rhythmus beizubehalten. Arm nach vorne, unter dem Körper durchziehen, links atmen. Drei weitere Armschläge, rechts atmen. Durch seine Schwimmbrille sah Malherbe den Boden vorbeiziehen, sah seine schwarzen Handschuhe mit den Schwimmhäuten unter sich vorbeigleiten. Der Schmerz in den Muskeln wurde stärker. Als er den Kopf aus dem Wasser hob, um Luft zu holen, konnte er sehen, dass er noch nicht einmal die Hälfte der Bahn geschafft hatte. Verbissen kraulte Piet Malherbe weiter. Er ahnte, dass er bereits hinter der optimalen Rundenzeit lag, die er mithilfe eines Pulsmessers errechnet hatte. Seinem Leistungsprofil zufolge lag diese für fünfzig Meter bei 0:45. Also 1:30 für einen Hundert-Meter-Abschnitt, danach jeweils zwanzig Sekunden Pause. Malherbe schnappte nach Luft. Sein Beinschlag, drei Schläge je Armzug, war ebenfalls aus dem Takt geraten. Und ihm fehlten immer noch zehn Meter bis zur Beckenkante.
Am Bahnende kam Malherbe keuchend aus dem Wasser hoch und schaute auf die Schwimmuhr an seinem Handgelenk. 2:05, fünfzehn Sekunden über der erlaubten Zeit. Er würde die fünfzehn Sekunden von der zwanzigsekündigen Verschnaufpause abziehen müssen, die ihm eigentlich zustand. So sah es sein selbst aufgestellter Trainingsplan vor: Pausieren durfte nur, wer Leistung brachte. Für Schwäche war kein Platz, Schwäche musste bestraft werden, umgehend. Er hatte seine kleine Pause fast vollständig verbummelt, also würde er sofort die nächste Schwimmeinheit absolvieren.
Malherbe wollte sich bereits abstoßen, als er aus dem Augenwinkel das hektisch blinkende rote Lämpchen wahrnahm. Er griff nach der durchsichtigen, mit einem Plastikclip verschlossenen Tüte am Beckenrand, in der sich sein Blackberry befand. Er besaß mehrere Telefone, doch nur dieses nahm er überall mit hin, auch nachts schaltete er es nie aus. Nicht einmal zehn Leute hatten die Nummer. Und sie alle wussten, dass man Piet Malherbe besser nicht wegen einer Lappalie anrief.
Scholz hatte ihn zu erreichen versucht. Der Deutsche war seit über drei Jahren der Sicherheitschef seiner Firma. Malherbe fluchte und drückte die Rückruftaste. Scholz meldete sich nach dem ersten Klingeln mit den Worten: »Guten Abend. Es gibt Entwicklungen in der Kats-Sache.«
Malherbe stemmte sich ein Stück am Beckenrand hoch, um besser telefonieren zu können. Es hatte wieder angefangen zu regnen, Tropfen fielen in den Außenpool und nun auch auf seine Schultern.
»Wissen wir endlich, wo er ist?«
»Wir wissen, wo er war«, erwiderte Scholz. »Da wir aber nicht direkt an ihm dranhängen, sondern nur seiner Datenspur folgen, können wir nie genau sagen, wo er ist. Wir haben immer eine Zeitverzögerung von drei, vier Stunden. Ein Problem asymmetrischer Information.«
Malherbe wusste um Scholz’ bisweilen oberlehrerhafte Art und war für gewöhnlich bereit, diese zu tolerieren. Nach den kolossalen Fehlern, die sein Sicherheitschef sich in den vergangenen Wochen geleistet hatte, verspürte er dazu momentan jedoch nicht die geringste Lust, zumal es bereits gegen Mitternacht ging und er einen anstrengenden Tag gehabt hatte. »Kommen Sie mir nicht mit dieser verquasten Scheiße, Scholz. Ich will einfach nur wissen, wo er ist!«
»Natürlich, Herr Malherbe. Und ich glaube, ich habe die Lösung.«
»Und zwar?«
»Ich würde vorschlagen, dass wir das unter vier Augen besprechen und nicht über das Swisscom-Netz. Soll ich zu Ihnen kommen?«
Scholz hatte natürlich recht. Sicherheit ging vor, und das Thema verlangte absolute Diskretion. »Gut. Kommen Sie so schnell wie möglich hoch.« Dann legte er auf.
Malherbe deponierte den noch immer durch die Plastiktüte geschützten Blackberry am Beckenrand, stieß sich mit den Armen aus dem Wasser und hievte seinen Körper über die Poolkante. Rasch schlang er sich ein Badetuch um die Schultern und eilte den mit Schieferplatten ausgelegten Weg vom in der nächtlichen Kälte der Alpen dampfenden Pool zum Gartenhaus seiner Villa hinauf. Als er dort etwas übergezogen hatte, stieg er die Treppe hinauf ins Hauptgebäude. Sein Haus lag in Mattberg, einem Dörfchen oberhalb des Vierwaldstättersees. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete die vier wie Schmetterlingsflügel
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