Noble House 02 - Gai-Jin
durchzogen. Ihr Pferd war schweißbedeckt, hatte eine tiefe Wunde an der Schulter und ermüdete zusehends. Es scheute. Ein kritischer Moment, aber sie fing sich und bog auf den Pfad ein, der durch das Dorf zur Brücke über den Kanal und zum Haupttor mit der Wachstube der Samurai und dem japanischen Zollhaus führte.
Die mit zwei Schwertern bewaffneten Samurai sahen sie kommen und traten vor, um sie aufzuhalten, aber sie jagte zwischen ihnen hindurch in die breite Hauptstraße der Niederlassung hinein. Einer der Samurai-Wachposten lief los, um einen Offizier zu holen.
Keuchend zügelte sie ihr Pferd. »Au secours… aidez-moi, Hilfe!«
Die Promenade war nahezu menschenleer; die meisten Bewohner hielten Siesta, saßen gähnend in ihren Kontoren oder vergeudeten ihre Zeit in den Freudenhäusern außerhalb des Zaunes.
»Hiiilfe!« rief sie immer wieder, bis die wenigen Männer, die zu sehen waren – zumeist britische Händler, dienstfreie Soldaten und Matrosen, aber auch einige chinesische Dienstboten –, erschreckt aufblickten.
»Allmächtiger, seht doch! Die kleine Französin…«
»Was ist los? Himmel, seht euch ihre Kleider an…«
»Großer Gott, die ist ja voll Blut!«
Alle eilten auf sie zu, bis auf die Chinesen, die – nach Jahrtausenden immer neuer Widrigkeiten – einfach verschwanden. An den Fenstern tauchten Gesichter auf.
»Charlie, hol Sir William, schnell!«
»Allmächtiger, dieses Pferd, das arme Vieh, blutet ja, jemand soll den Tierarzt holen«, rief ein korpulenter Händler. »Und du, Soldat, hol sofort den General und den Franzmann, sie ist sein Mündel – den französischen Gesandten, um Gottes willen, schnell!« Ungeduldig deutete er auf ein flaches Gebäude, auf dem die französische Flagge wehte. »Mach schon!« brüllte er, und der Soldat lief los, während er selbst so schnell wie möglich auf das verletzte Mädchen zuwatschelte. Wie alle Kaufleute trug er Zylinder, Gehrock, enge Hose und Stiefel und schwitzte in der heißen Sonne. »Was ist denn um Himmels willen geschehen, Miß Angélique?« fragte er und griff nach ihrem Zügel, entgeistert über den Schmutz und das Blut, mit denen ihr Gesicht, ihre Kleidung und ihr Haar bespritzt waren. »Sind Sie verletzt?«
»Moi, non… nein, ich glaube nicht, aber wir wurden attackiert… Japaner haben uns angegriffen.« Immer noch unter Schock versuchte sie, zu Atem zu kommen, nicht mehr zu zittern, und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Erregt deutete sie landeinwärts nach Westen, wo am Horizont undeutlich der Fujijama zu sehen war. »Da hinten, schnell, sie brauchen Hilfe!«
Alle, die in der Nähe standen, waren entsetzt und begannen die wenigen, bruchstückhaften Informationen lautstark an andere weiterzugeben und dafür Fragen zu stellen: Wer? Wer wurde angegriffen? Franzosen oder Briten? Angegriffen? Wo? Wieder diese Hunde mit den zwei Schwertern! Wo zum Teufel ist das passiert…?
Fragen folgten auf Fragen und ließen ihr weder Zeit, etwas zu erwidern, noch hätte sie zusammenhängend antworten können, denn während die Leute sich immer dichter um sie drängten, mußte sie noch immer mühsam um Atem ringen. Immer mehr Männer kamen auf die Straße heraus, viele bereits mit Pistolen und Musketen bewaffnet, einige mit den neuesten amerikanischen Hinterladern. Einer dieser Männer, ein breitschultriger, bärtiger Schotte, kam die Treppe eines imposanten zweigeschossigen Hauses heruntergelaufen, über dessen Portal ›Struan and Company‹ geschrieben stand, und bahnte sich durch die aufgeregte Menge einen Weg zu ihr.
»Ruhe, Himmel noch mal, Ruhe!« rief er laut, und dann, in der unvermittelten Stille: »Erzählen Sie, was geschehen ist! Wo ist der junge Mr. Struan?«
»O Jamie, je… Ich, ich…« Das verwirrte junge Mädchen versuchte verzweifelt, sich zu fassen.
Er hob die Hand und tätschelte ihr wie einem Kind beruhigend die Schulter; er bewunderte sie ebenso sehr wie alle anderen. »Keine Sorge, Sie sind in Sicherheit, Miß Angélique. Lassen Sie sich Zeit. Machen Sie ihr doch um Gottes willen ein bißchen Platz!« Jamie McFay war neununddreißig und Hauptgeschäftsführer von Struan’s in Japan. »Und nun erzählen Sie uns, was geschehen ist.«
Das blonde Haar zerzaust, wischte sie sich die Tränen ab. »Wir… wir wurden angegriffen, von Samurai«, berichtete sie mit ganz kleiner Stimme und bezauberndem Akzent. Alle reckten den Hals, um besser hören zu können. »Wir waren… Wir waren auf der… auf der großen
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