Noch ein Tag und eine Nacht
Blüte standen. Mein Engel im Schnee war verschwunden. In diesem Augenblick kam eine SMS von Monica, mit der ich mich zu jener Zeit wieder öfter traf. Sie stand auf der Hitliste »Anzahl der Trennungen« ganz oben. Von ihr hatte ich mich bestimmt schon hundert Mal getrennt, immer gleich nachdem ich mit ihr geschlafen hatte. Und jedes Mal war ich davon überzeugt. Doch eigentlich war jedes Adieu ein Aufwiedersehen. Es reichte, wenn sie eine SMS mit »Was treibst du so?« schickte, und eine halbe Stunde später lagen wir uns in den Armen. Doch in dieser Phase klappte es selbst mit Monica nicht mehr wie früher.
Ich las ihre SMS: »Sehen wir uns später? Ich habe Lust auf dich.«
Und zum ersten Mal schickte ich ein »Nein«.
Deshalb war ich auch nicht sonderlich überrascht, als sie mich an den folgenden Tagen mit hasserfüllten Nachrichten voller Beschimpfungen bombardierte. »Immer noch besser als die Schläge von ihrem Freund«, dachte ich.
Zwei Monate waren seit meiner Abreise aus New York und der Trennung von Michela vergangen, und noch immer war ich nicht zur Ruhe gekommen. Meine plötzliche Abreise hatte mir einen Tag mit Michela genommen, und allmählich nahm der Wunsch Gestalt an, für diesen einen Tag zu ihr zurückzukehren. Vielleicht war es ja das, was mir fehlte: Noch ein Tag. Und eine Nacht.
Insgeheim hatte ich schon Gott weiß wie oft daran gedacht, ohne es jedoch jemandem zu verraten, nicht einmal Silvia. Zum ersten Mal war mir der Gedanke gekommen, als ich zusammen mit meiner Mutter Omas Wohnung ausräumte. Während ich Schubladen, Schachteln und Schrankkoffer öffnete, fiel mir wieder ein, wie Oma mir und meinen Vettern und Cousinen einmal erzählt hatte, dass ihr Vater ihr als Kind einen Zaubersack geschenkt habe, sie aber nicht mehr wisse, wo er abgeblieben sei. Wenn man ein Bild oder ein Foto in den Sack steckte, kam es am nächsten Tag wieder heraus… in echt. Deshalb brachten wir als Kinder ganze Tage damit zu, nach dem Sack zu suchen und aus Zeitschriften all die Dinge auszuschneiden, die wir uns wünschten. Sogar solche, die viel größer waren als der Beutel. Ein Cousin fragte, ob auch ein Panzer aus dem Zauberbeutel herauskommen könne. Bald hatten wir einen ganzen Berg Zeitungsausschnitte: Fahrräder, Raumschiffe, Lokomotiven, Pferde. Einmal schnitt ich sogar ein Baby aus, weil ich ein Brüderchen haben wollte.
Als ich nun in Omas Sachen stöberte, malte ich mir aus, was ich mir wünschen würde, wenn ich den Beutel jetzt fände. Ich wünschte mir nichts Materielles, kein neues Auto, kein Geld, keine Wohnung. Wenn ich einen Wunsch freigehabt hätte oder besser noch drei, wie bei Aladins Lampe, hätte ich mir ganz was anderes gewünscht: bestimmte Momente, Situationen und Augenblicke.
An jenem Tag in Omas Wohnung fiel mir auf, dass ich mir Dinge zurückwünschte, die unwiederbringlich verloren waren. Die Sonntage mit meinem Vater, seine Umarmungen. Den Nachmittag mit Laura, unser erstes Mal. Das Gefühl, wenn Oma mir über die Haare strich, ihre Lasagne und ihre Stimme. Wie sehr wünschte ich mir den Tag zurück, an dem ich Andreas Auto kaputtgemacht hatte, um es ungeschehen zu machen. Die Vormittage in der Straßenbahn mit der geheimnisvollen Michela. Mein Hund, der nicht mehr da war und mir fehlte wie ein Mensch. Sein Tod war für mich, als wäre ein naher Verwandter gestorben. Einmal stritt ich mich sogar mit einem, der meinte: »Sicher, es ist traurig, aber letztendlich ist es nur ein Hund und kein Mensch.« Für mich aber war sein Tod mindestens so schlimm wie der Verlust eines Menschen. Vielleicht weil ich bei ihm als Einzigem das Gefühl hatte, dass er der Einzige war, der mich verstand und mich wirklich liebte. Und dann, als er eingeschläfert werden musste, habe ich ihn selbst für die Spritze zum Tierarzt gebracht. Besser gesagt für die drei Spritzen. Eine zur Beruhigung, eine zum Einschlafen und eine tödliche. Ich werde nie vergessen, wie er mich angesehen hat, als ich ihn zum Sterben wegbrachte. Ich hatte das Gefühl, er wusste ganz genau, wohin wir gingen, und als sie ihm die letzte Spritze setzten, war ich überzeugt, dass er Bescheid wusste.
Hätte ich den Zaubersack gefunden, hätte ich mir nichts Neues gewünscht, nur meine alten Sachen zurück. Am meisten von allem aber wünschte ich mir das zurück, was ich mit Michela erlebt hatte.
Noch einmal nach New York zu fahren erwog ich ernsthaft nach einem Abend mit Silvia. Ich begleitete sie oft zu
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