Noch ein Tag und eine Nacht
Mutter die Tränen aus den Augen liefen. Aber ich redete weiter, bis ich alles gesagt hatte, und dann fing auch ich an zu weinen. Meine Mutter versuchte vergeblich, etwas zu erwidern. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich geweigert, in sich selbst hineinzusehen. Ich wusste, was sie sagen wollte. Sie schluchzte, sie weinte, dann war sie plötzlich still. Ich sagte, sie könne mir das, was sie mir sagen wollte, auch ein andermal sagen. Und so kam es dann auch. Im Lauf der letzten Monate sind wir uns wieder nähergekommen. Schluss mit den Tränen. Sie hat mir sogar einen Wäschetrockner geschenkt.
Bevor wir das Haus verließen, meinte sie noch, bestimmt habe Oma bei unserem Gespräch ihre Finger im Spiel gehabt. Ganz bestimmt, sagte ich.
»Ich geh jetzt, ciao Mama.«
»Ciao.«
Wenn man sich mit einem Menschen versöhnt, mit dem man lange im Streit lag, ist das eine ungeheuer intensive Sache. So etwas kommt auch zwischen Menschen vor, die sich erst seit kurzem kennen. Man ist dann einfach großzügiger. Deshalb sagte ich noch, bevor ich ging: »Schönen Gruß an Fausto.«
Fausto ist der Lebensgefährte meiner Mutter, und es war das erste Mal, dass ich ihn beim Namen nannte.
Beflügelt von der Begeisterung darüber, dass ich mit meiner Mutter Frieden geschlossen hatte, machte ich einen Bummel und ging in einen Spielzeugladen. Ich kaufte ein Geschenk, das ich einpacken ließ, und dann kaufte ich dasselbe noch einmal für mich selbst.
Dann besuchte ich Andrea im Büro, traf ihn aber nicht an. Also legte ich das Päckchen auf seinen Schreibtisch und schrieb auf einen Zettel: »Verzeih mir. Bis bald… hoffentlich.«
Dann ging ich nach Hause, doch bevor ich die Treppen hinaufstieg, machte ich auf dem Hof Station und spielte ein bisschen mit dem ferngesteuerten Auto, das ich gerade für mich selbst gekauft hatte. Ich war zufrieden, endlich hatte ich das Unrecht von damals wiedergutgemacht und auch mir selbst einen Wunsch aus Kindertagen erfüllt. Ich war nicht stolz auf das, was ich angerichtet hatte, damals nicht und jetzt noch viel weniger. Überhaupt nicht. Aber jetzt fühlte ich mich erleichtert, das schon.
Gespräch mit Silvia
In der Zeit stand mir Silvia sehr nahe. Wir hatten uns viel zu erzählen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie abgenommen. Ich hingegen hatte in New York ein paar Kilo zugelegt. Als wir eines Tages zusammen in der Bar saßen und einen Kaffee tranken, sagte Silvia zu mir: »Mein Vater hatte einen Autounfall.«
»Wann denn?«
»Gestern.«
»Ist er verletzt?«
»Er hat sich die Schulter gebrochen und den Kopf angeschlagen. Er war nicht angeschnallt. Sie haben ihn in die Notaufnahme gebracht und dann zur weiteren Untersuchung dabehalten. Heute oder morgen wird er entlassen.«
»Hat er einen ordentlichen Schreck bekommen?«
»Ich glaube schon. Aber ich bin fix und fertig.«
»Ach, er wird bestimmt wieder gesund. Wenn das mit dem Kopf gravierend wäre, hätte man es dir schon gesagt.«
»Es ist nicht wegen des Unfalls.«
»Weshalb denn, wegen des Autos?«
»Er war nicht allein. Eine Frau war dabei, ihr ist nichts passiert, aber sie ist seine Geliebte.«
»Die Tatsache, dass eine Frau bei ihm im Auto saß, muss noch nicht bedeuten, dass sie seine Geliebte ist.«
»Seit rund drei Jahren geht das schon.«
»Woher weißt du das?«
»Von meiner Mutter.«
»Von deiner Mutter?«
»Kannst du dir das vorstellen? Mein Vater ist fünfundsechzig, hat seit bald drei Jahren eine Geliebte, meine Mutter weiß Bescheid und sagt nichts.«
Ich war sprachlos.
»Du weißt ja, womit meine Mutter mir ständig in den Ohren liegt, seit ich ihr anvertraut habe, dass ich Carlo nicht mehr liebe und ihn verlassen will. Und was mein Vater gesagt hat, als er hörte, dass Giulia sich getrennt hat. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Deine Mutter hat gesagt, du müsstest alles ertragen und dich aufopfern, und dein Vater hat Giulia als Nutte bezeichnet. Bist du deshalb so sauer?«
»Nicht nur sauer, stinksauer. Auf alle beide. Meine Mutter ist sechzig und steht praktisch mit leeren Händen da. Und sie sagt nichts, weil sie sich damit abgefunden hat. Doch anstatt mir alles zu erzählen und es mir ersparen zu wollen, dass es mir auch so ergeht wie ihr, hat sie nichts Besseres zu tun, als von Aufopferung und Verzicht zu reden, das bringt mich wirklich auf die Palme. Ich meine, das ist doch unmöglich, wie kann man nur so sein? Ich bin ihre Tochter, und sie tut alles, damit es mir genauso
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