Noch lange danach
kann mir vorstellen, dass sie Malerin oder Musikerin geworden wäre. Das Danach -Leben aber zwang das „Sensibelchen“, auf Dauer in eine depressive Stimmung zu flüchten. Ihre Zwillingsschwester und ihr neugeborener Sohn – das war einfach zu viel für sie. Omi hat mal gesagt: „Corinna kann einfach nicht loslassen. Deshalb leidet sie so sehr …“
Ja, so ähnlich erging es mir anfangs auch mit Omi: Als sie starb, habe ich tagelang geweint. Jetzt muss ich nicht mehr weinen, wenn ich an sie denke. Aber noch immer kommt es mir vor, als würde der Himmel heller, wenn ich mich an sie erinnere.
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Ich glaube, diese Huperei gilt euch. Ihr werdet abgeholt.
Den Abend frei? Schaut euch Freiburg an! Eine schöne Stadt. Übrigens ist das Wetter hier eines der besten von Deutschland!
Und wo geht’s morgen hin?
Da habt ihr ja viel vor.
Nach Gorleben wollt ihr auch noch? Vor den Gorlebenern und ihren Nachbarn muss man den Hut ziehen. Tapfere Leute. Und vor allem zäh. Eine Generation nach der anderen hat sich energisch gegen die Anlieferung von Atommüll und die Anlage eines Endlagers für diesen eine Million Jahre strahlenden atomaren Abfall gewehrt. Jede hat sich bemüht, der nächsten Vorbild zu sein. Wenn den Eltern die Puste ausging, haben die Kinder weitergemacht.
Seid vorsichtig! Trinkt auf keinen Fall aus einer Quelle! Und schon gar nicht, wenn davor gewarnt wird.
Und wenn ihr heimkommt, erzählt, erzählt, erzählt! Vor allem denen, die bedauern, dass sich die Atomindustrie zurückgezogen hat.
Nichts zu danken. Ich wünsche euch einen guten Heimflug. Lebt wohl! – Tschau!
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Ja?
Heute Abend? Aber wozu …?
Ein Gespräch? Ich hab doch schon genug erzählt: über Omi, Opa und meine Eltern. Über unsere Schule und unsere Wohnung. Über die Katastrophe und das Davor und das Danach … und über die Toten …
Über die Zukunft? Die ist doch …
Na gut. Aber hier auf dem Schulhof können wir uns nicht treffen. Der wird abends geschlossen.
Bei mir zu Hause? … Na ja, wenn nur du allein kommst, können wir uns vielleicht an den Tisch setzen, der vor der Hintertür steht. Zwischen Haus und Gestrüpp. Dort stören wir Mama nicht.
Meine Adresse? Finkenweg 16.
Etwa um halb acht?
Ich werde dich um diese Zeit vor der Haustür erwarten, damit du nicht Mühe hast, die Hausnummer zu finden. Und damit du nicht schellen musst. Mama soll ihre Ruhe haben. Du musst auch entschuldigen, dass ich ab und zu aufstehen werde, um nach ihr zu sehen.
Also bis heute Abend. Wie gesagt: An meinem guten Willen soll es nicht fehlen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dir viel bei deinen Zukunftsplanungen helfen kann. Sagst du mir noch deinen Namen? Damit ich dich anreden kann …
Gefällt mir! Also bis dann. Tschau!
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Mama? … Mama? …Wach auf, ich muss dir was ganz Tolles erzählen: Ich hab einen Freund! Hörst du? … Carlos heißt er! Einer von der chilenischen Gruppe, die ich durch die Schule geführt habe. Er war heute Abend hier. Die ganze Zeit – bis vorhin. Angemeldet, nicht einfach so mit der Tür ins Haus gefallen. Erst wollte er mit mir über seine Pläne sprechen. Es wurde ein immer heftigerer Gedankenaustausch. Aber nur am Anfang. Dann habe ich zu denken vergessen. Ich glaube, er auch. Der Abendhimmel war über und über rot. Und das Gestrüpp hat so wunderbar geduftet wie noch nie …!
In vier Monaten macht er sein Abi. Ende November. Rate mal, was er dann studiert? Journalismus! Davon träume ich doch!
Er hat was ganz Großes im Sinn, und er hat mich gefragt, ob ich mitmache. Stell dir vor, er denkt auch viel nach. Über Probleme der Welt. So wie ich. Er will junge Typen per Internet rund um den Globus zusammenbringen, Leute in unserem Alter, will mit ihnen der jungen Generation eine Stimme geben, sagt er. Und dann … und dann …
Er wird von sich hören lassen, so bald wie möglich. Ich werde ihm antworten. Und dann werden wir zusammen überlegen, was wir machen wollen. Und wie.
Im Ziel sind wir uns schon einig: Die Welt muss verändert werden! Die Welt, die uns die Alten hinterlassen haben. Ohne Rücksicht auf Grenzen. Und ohne Gewalt, ohne selbstgemachte Gefahren! Die Katastrophenopfer sollen sich nicht mehr allein fühlen. Vor allem sollen sie wieder Hoffnung haben.
Hoffnung, Mama – Hoffnung!
O Mama, … Mama ..! Ich bin so … so ganz da! So hab ich mich bisher noch nie gefühlt!
Wie bitte? Hast du was gesagt? Du musst lauter sprechen, sonst verstehe ich dich nicht!
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