Mondstahl - Die Schlucht (German Edition)
Prolog: Der Tanz der Waldgeister
Es war kalt im Wald der Geister. Der Morgen durchschnitt die Nacht wie eine scharfe Klinge und das Zwielicht des Mondes löste sich in blasses Morgenlicht auf. Die Tiere und Pflanzen des Waldes schliefen noch, es herrschte unheimliche Stille. Der Klang eines einzelnen Wassertropfens hallte viele Meter durch die friedliche Unbeschwertheit des frühen Tages. Kein Lebewesen war auf der Jagd oder suchte nach frischen Pflanzen. Der Sand in der großen Uhr des Lebens schien hier aufgehört haben zu fließen. Doch nur für das ungeschulte menschliche Auge.
Es gab Wesen in diesem Wald, die älter, schöner und weiser waren als jeder andere Bewohner Jahowals. Sie zogen allein durch die üppigen, grünen Wälder, bewahrten sie vor schlechten Einflüssen und der Verderbtheit der Dämonen. Sie atmeten die Seelen der verblichenen Vegetation, hauchten neues Leben in die alten Leichen kahler Bäume. Sie waren abertausende von Jahren alt, doch entstanden jeden Moment neu. Niemand, der jemals einen von ihnen gesehen hatte, war lange ein Mensch, sondern bald ein kleines Blümchen am Waldesrand. Diese Wesen wanderten durch den Nebel, schlichen durch das Licht, zischten durch die Seelen derer, die die Wälder ihre Heimat nannten. Sie waren überall und nirgendwo. Immer anwesend in den Köpfen der Lebewesen, niemals fest genug um sie zu berühren. Sie waren die heimlichen Herrscher des Waldes. Sie waren die Waldgeister.
Sie hatten keine Seelen, doch sie fühlten. Sie hatten keinen Verstand, doch waren sie weiser als alle Menschen der Welt. Sie hatten keine Vergangenheit und doch lebten sie seit ewig her. Es gab keine Regelmäßigkeit in ihren Taten, kein System in ihren Bewegungen. Keiner von ihnen ähnelte dem anderen, jeder einzelne hatte tausend Gesichter. Ein ewiger Strom aus Bewegung und Veränderungen. Ruhelos trieben die Geister des Waldes durch den Äther. Sie waren die Hüter des Lebens.
Nur an einem Ort Jahowals trafen die Waldgeister aufeinander, einmal in tausend Jahren. Jeder einzelne, es gab keine Ausnahme. So kamen sie aus allen Ecken und Enden der Welt. In einer Nacht in tausend Jahren. Wenn alle Planeten eine kosmische Linie ergaben, hallte ein übermenschlicher Ruf durch die Wälder und Gebirge, über die Städte und Seen. Und alle Geister folgten ihm an einen geheimen Ort, wo der Rhaichi, der Höchste der Geister, sie erwartete. Dieses düstere Ritual wurde der Tanz der Waldgeister genannt. Es sollte nie ein anderes Lebewesen Zeuge dieses Ereignis werden. Jeder Mensch, der sich diesem Heiligtum der Elemente näherte, erstarrte sofort zu Stein.
Es war der tausendste Tag des Tanzes. Die Planeten standen in einer perfekten Reihe und der strahlende Vollmond schien auf die Lichtung inmitten des unbekannten, undurchdringlichen Waldes. Es war ein Ring aus Felsen, überzogen mit längst vergangenen Schriftzeichen, in perfekter Symmetrie aufgestellt. Jede einzelne dieser Runen stand für eine Spezies auf Jahowal, jene die waren und jene, die noch kommen würden. Auf jedes dieser uralten Schriftzeichen schien das reine Mondlicht und jedes dieser Zeichen reflektierte es, sodass es im Zentrum des Hains zu einem kraftvollen Strahl gebündelt wurde. Er verformte sich zu einer Kugel aus flackernder Energie. Dieser pulsierende Lichtball wurde umhergetrieben durch die Bewegungen der körperlosen Waldgeister.
Die Luft war getränkt von unendlichem Stimmengewirr, jede kräftig wie ein starker Baum. Inmitten der flackernden Energie türmten sich kleine metallene Teilchen auf, wirbelten durcheinander, schienen zu tanzen wie die Geister. Schließlich verschmolzen sie in silbriger Glut, bildeten einen harten Kern, fest wie Granit. Es wuchs und wuchs, bis er die Größe eines menschlichen Schädels erreichte. Dann sank die silberne Kugel zu Boden, auf einen Altar aus Elfenbein. Als sie aus dem Licht verschwand, erloschen auch die Lichtblitze und schossen in alle Welt hinaus.
Das Werk der Geister schimmerte geheimnisvoll im Mondlicht. Feine Rauchfäden stiegen von ihm auf, als es umringt von den Stimmen der tanzenden Waldgeister auf seinem Podest ruhte. Es war Mondstahl, das härteste Metall des Planeten. Geschmiedet vom Mond, den Wäldern und ihren Dienern, den Waldgeistern.
Nun erlosch jedes Geräusch. In der aufziehenden Stille verbanden sich die Stimmen zu einer einzigen. Die Luft wurde von schimmernden Wellen erfasst, die sich über dem Altar in
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