Noch lange danach
gekrochen und hat sich bis über den Kopf zugedeckt.
„Sie scheint gleich eingeschlafen zu sein“, hat die Polizistin gesagt. „Denn die Bettdecke war fast glatt. Danach ist sie nicht mehr aufgewacht … Na ja, sie war ja jetzt auch zu Hause. Zu Hause schläft man am besten. Jedenfalls hat sie einen friedlichen Tod gehabt …“
Und schon war sie wieder weg. Die Polizei hat viel zu tun in Zeiten wie den jetzigen.
Trost? Ein bisschen Trost hat die Nachbarin gespendet. Die kam rüber und hat Mama einen heißen Tee gebracht. Mir hat sie übers Haar gestrichen.
Tja. Das ist also Omis Geschichte …
31
Mit Omis Tod wurde alles anders. Da hat die ständige Angst um Mama angefangen. Vor allem, wenn ich in der Schule war. Ich traute mich nicht, das Öfchen mit Holz vollzupacken, bevor ich in die Schule ging. Denn es hätte ja ein Funken herausfliegen und einen Brand auslösen können. Aber nun fror Mama oft, weil sie sich zuzudecken vergaß. Also bin ich im Winter gar nicht mehr zur Schule gegangen.
Mit wem ich da gesprochen habe? Mit niemandem. Ich habe nur stumm auf dem alten Sessel gesessen, neben Mamas Sofa, und habe nachgedacht oder im Internet gesurft – oder gedöst. Wenn’s Zeit zum Kochen war, habe ich gekocht. Erst wenn’s dunkel war, bin ich einkaufen gegangen. Und das auch nur höchstens einmal pro Woche. Aber pünktlich habe ich jeden Tag einige Male die Nachrichten im Radio gehört oder sie im Internet gelesen, damit ich gewusst habe, was in der Welt vorgeht. Und damit ich sicher war, dass es noch eine Welt gibt.
Post? Wir? Selten.
Einmal kam ein Brief aus Chile. Von Papa. Das war der wirklich einzige Tag meiner Schwänzzeit, an dem bei uns etwas Aufregendes passiert ist. Damals habe ich ihn als Beweis gesehen, dass ich noch am Leben bin.
Doch. Meine Mitschüler haben sich gewundert. Die Lehrerin hat sogar befürchtet, ich sei auch schon gestorben.
Ja. Von einem Polizisten. Er hat Mama aber nicht geweckt, hat sie auch nicht angeschnauzt. Auch hat er mir nicht gedroht und mich am Schlafittchen in die Schule gezerrt. Er hat mir gesagt, er habe eine Tochter, etwa so alt wie ich. Mit ihr habe er zurzeit auch Schwierigkeiten. Und als er erfuhr, dass meine Großeltern damals aus nächster Nähe des Katastrophenreaktors geflüchtet waren, hat er mir erzählt, dass er als Dreijähriger ebenfalls mit seinen Eltern habe flüchten müssen, Hals über Kopf. Er wundere sich, dass er bisher noch nicht krank geworden sei. Denn er habe sicher eine Menge Strahlung abgekriegt.
Trotzdem hatte ich große Angst. Könnt ihr euch denken, weshalb? Dass ich in ein Kinderheim eingewiesen werde. Weil mein Zuhause ungeeignet für eine Zwölfjährige war. Ohne mich wäre Mama sich selbst überlassen geblieben. Oder man hätte sie in eine primitive Psychiatrie gesteckt. Nur das nicht! Aber nichts geschah. Dafür hat wohl vor allem dieser Polizist gesorgt.
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Wenn ich an Mama denke, kommt mir oft der Tod in den Sinn. Ebenso löst mein Bruder, der nie außerhalb Mamas Bauch gelebt hat, Todesgedanken bei mir aus.
Der Tod? Ja, ich weiß: Früher wurde er gern ausgeklammert. Man hat das Sterben umschrieben mit „heimgehen“, „entschlafen“, „das Zeitliche segnen“, „hinscheiden“. Das heißt: Man wollte mit ihm nichts zu tun haben. Der Tod sollte weit weg sein.
Aber jetzt ist das anders. Er ist nahe, ist nichts Besonderes. Jedenfalls nicht für die, die schon mal eine Reaktorkatastrophe mitgemacht haben.
Nur für die einzelnen Familien ist es bitter, wenn einer von ihnen sterben muss. Jederzeit kann jemand in der Familie krank werden. Egal, ob man selber dran ist oder jemand, den man sehr lieb hat: Nicht vor dem Tod hat man Angst, sondern vor allem vor dem Abschiednehmen. Und vor der Einsamkeit, wenn man allein zurückbleibt.
Wie viele Familien sind geschrumpft! Und so manche jungen Paare trauen sich nicht mehr, Kinder in die Welt zu setzen. Denn was für eine Welt ist das? Ich habe Omi mal grimmig zu sich selbst sagen hören: „Wir Menschen werden es doch wohl noch schaffen, uns selber auszurotten …“
Meine Mama hat sich bis jetzt nicht an den Tod gewöhnt. Vielleicht deswegen, weil sie so sensibel ist. Selten hat Omi sie mit ihrem wahren Namen, Corinna, angeredet. Sondern fast immer nur mit einem zärtlichen „Sensibelchen“. Wollte sie ihr damit zu verstehen geben, dass sie nicht allein war, sondern geborgen in Liebe … ?
Ja – sicher hätte Mama mehr Chancen in der Davor -Atmosphäre gehabt. Ich
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