Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
und Glied eine zwanzigköpfige Eliteeinheit der Polizei, Blauröcke mit Helmen und Gewehren.
»Verdammte -« Er hechtete wieder zurück, als Kugeln die Treppe durchprasselten, landete auf Händen und Knien, und eine Scherbe ritzte ihm die Handfläche auf.
Trapp-Trapp, Trapp-Trapp. Hinter ihm schwoll das dumpfe Trommeln der Schritte an, ein unaufhaltsamer Takt des Todes.
»Ich kann dir den Weg nach draußen zeigen«, sagte der merkwürdige Junge, der noch so dastand, wie Tigwid ihn verlassen hatte. Die näher kommende Eliteeinheit schien ihn nicht im Geringsten aus der Fassung zu bringen.
Tigwid knurrte, als er sich aufrichtete. »Wie viele Irre wollen mir heute noch helfen?«
Der Junge riss sich die Boxerbandagen von den Händen. »Komm.«
Sie rannten los. Der Junge steuerte die Tür an, aus der Tigwid vorher gekommen war. Ein Polizist stellte sich ihnen in den Weg und richtete seine Pistole auf ihn. Doch der Junge versetzte ihm im Rennen einen so zielgerichteten Kinnhaken, dass er glatt von den Füßen gerissen wurde. Tigwid war baff. So einen Schlag hätte er selbst nie zustande gebracht, schon gar nicht mit der Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, die der Junge bewiesen hatte. Umso mehr musste er sich vor ihm in Acht nehmen.
Aber das später. Im Moment war er wegen der Polizisten mehr in Sorge, die in Bluthundgrube strömten wie Wasser in ein undichtes Schiff.
»ALLE STEHEN BLEIBEN!«, donnerten Stimmen. »WER VERSUCHT ZU FLIEHEN, WIRD ERSCHOSSEN!«
Die Kugeln peitschten rings um Tigwid durch die Luft, bohrten sich in den Boden, die Wände, in rennende Männer. Endlich schlitterte er um die eingebrochene Türöffnung und stieß gegen den Jungen. Der Junge keuchte. Tigwid erkannte, dass ihm Blut am Arm entlangrann. »Du bist getroffen!«
»Ja«, sagte der Junge, »beeil dich.«
Vor Staunen vergaß Tigwid zu sagen, dass er schon hier gewesen war und die Treppe nur hinunter zu Laternenreich führte. Aber der Junge machte keine Anstalten, die Treppe zu nehmen. Stattdessen betastete er die rechte Wand und schlüpfte durch einen Spalt, der gerade breit genug war, dass ein Mensch seitlich hindurchpasste. Tigwid folgte ihm und das spärliche Licht war mit einem Mal verschluckt.
»Bist du da, Gabriel«, fragte der Junge tonlos.
»Äh, ja, hier.« Tigwid zwängte sich voran. Es war so eng, dass die Wand vor ihm und die Wand hinter ihm seine Brust und seinen Rücken berührten. Er musste den Kopf schief halten.
»Wo führt der Weg hin?«
»Vorbei an Labyrinth , dann in den Untergrund der Diebe, der noch tiefer liegt als Eck Jargo . Von dort aus kommen wir wieder an die Oberfläche und dann an den Fluss.«
Tigwid schwieg eine Weile, während sie sich weiter durch die Dunkelheit schoben, Schritt um Schritt, und der tobende Kampflärm zu einem verzerrten Echo gerann. Tigwid schloss die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was hinter den feuchten Mauern geschah.
»Woher kennst du den Weg?«, flüsterte er.
»Wenn man sieben Jahre in Eck Jargo boxt, findet man so was raus.«
Tigwid überlegte, in welchem Alter der Junge mit dem Boxen angefangen haben musste, wenn er heute nicht älter war als er selbst.
Unter normalen Umständen wäre er aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, so unglaublich wäre es gewesen, den berüchtigten Untergrund zu betreten - oder nur zu erfahren, dass das meilenweite Netzwerk unterirdischer Gänge kein Ammenmärchen war. Aber jetzt trug ihre Flucht durch die dunklen Irrwege nur zu seinem allgemeinen Schock bei. Wie betäubt hastete er an den aufgeregten Gestalten vorbei, die entweder wie sie aus Eck Jargo geflohen waren oder von dem Polizeiüberfall gehört hatten. Er nahm kaum etwas wahr, während er dem Jungen folgte; erst durch schmale Stollen mit Lehmwänden und niedrigen, von Holzbalken gestützten Decken, dann durch weit verzweigte Kanalschächte, durch breite Steinflure mit hohen Gewölben und durch riesige Rohre, in denen die Echos weit entfernter Geräusche umherirrten wie Gespenster. Irgendwann erreichten sie erdige Treppenstufen, liefen sie empor und kletterten an verrosteten Feuerleitern hinauf, die an Deckenöffnungen befestigt waren. Nach Stunden, so schien es, stiegen sie endlich aus einem kleinen Abflussschacht und standen in einer engen, muffigen Gasse. Tigwid hustete und musste sich gegen eine Hauswand lehnen. Die kalte Winterluft schnitt ihm in die Lungen, nachdem er so lange Staub und Moder geatmet hatte. Mit zittrigen Händen strich er sich
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