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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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    »Siehst du jetzt? Dir hat man das Glück genommen. Mir alles.«
    »Welcher - kranke - kranke Irre macht so was?«
    »Ich glaube, das sind die Dichter, von denen du vorher gesprochen hast.«

    Tigwid ließ sich auf die Knie fallen und nahm Vampa das Buch aus den Händen. Hastig durchblätterte er es, zerrte an den Seiten und ließ den Blick über die winzigen Schriftmuster irren. »Wie geht das? Das da - das bin ich? In der Schrift ?«
    »Die Schriftsteller müssen Motten sein. Anders ist es nicht zu erklären. Irgendwie sperren sie Menschen in ihre Wörter. Hier, alles ist mit Blut und Tinte geschrieben. Deinem Blut.«
    »Mein …? Aber …«
    Vampa nahm vorsichtig Tigwids Arm und strich Jackett und Hemd zurück. An der Innenseite seines Oberarms war die Narbe eines Messerschnitts. Alt konnte sie nicht sein, höchstens ein halbes Jahr.
    Tigwid öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Bis jetzt hatte er geglaubt, sich den Schnitt bei einem Krawall in der Roten Stube geholt zu haben, als er ein Bier zu viel getrunken hatte. Vampa ließ seinen Arm los, strich sein eigenes Hemd hoch und hielt einen fast identischen Schnitt an der Innenseite seines Oberarms neben Tigwids.
    »Siehst du.« Vampa hielt nun seinen anderen Arm daneben. Auch hier war eine Schnittwunde, dick und buckelig. »Wir beide, wir teilen dieselbe Vergangenheit, Gabriel.«
     
    Es war, als hätte er sein ganzes Leben geschlafen und erfahre erst jetzt, was er während der langen Zeit geträumt hatte. Tigwid saß ganz klein auf der zerfledderten Matratze, die Beine an die Brust gezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. »Lies mir vor«, bat er Vampa mit erstickter Stimme. »Ich … bitte. Lies mir vor, was da drinnen steht.«
    Vampa beobachtete ihn nachdenklich. »Was willst du hören?«
    »Etwas… aus meiner Kindheit. Vielleicht war meine Zeit im Waisenhaus ja nicht so furchtbar, wie ich sie in Erinnerung
hab.« Er lächelte gequält über die Wahrheit in diesem Gedanken.
    »Du warst glücklich, als du mal einer Erzieherin, klein und dick war sie, die Strümpfe zerschnitten hast. Sie hat nie rausgefunden, dass du es warst. Die anderen Kinder haben dich als Held gefeiert. Eine Kleine mit braunen Haaren hat dich angelächelt. Sie hatte Sommersprossen und nur einen Vorderzahn und du hast sie oft auf dem Rücken getragen. An sie konntest du dich besonders gut erinnern.«
    Tigwid lächelte, während ihm Tränen in die Augen stiegen. »Lissi. Das war Lissi. Ist mit acht gestorben.« Er vergrub das Gesicht in den Armen und es blieb sehr lange still. »Ich kann mich noch dran erinnern, wie traurig ich war«, nuschelte er irgendwann. »Aber ihr Lächeln… das kenne ich nicht mehr.«
    Vampa wusste nicht, ob er weitersprechen sollte. Aber schließlich war der Drang zu stark. Es war, als könne er Tigwid eine Erinnerung erzählen, die ihm , Vampa, gehörte. Und gleichzeitig waren sie beide eine Person, mit einer Vergangenheit… alles, was sie trennte, waren die Worte, mit denen Vampa ihm seine Erinnerungen erzählen musste.
    »Da war auch ein Mädchen«, begann Vampa, »das dir eine Blume geschenkt hat. Irgendwann im Sommer. Sie hat dir die Blume ins oberste Knopfloch deines Jacketts gesteckt. Wie hieß die?«
    »Keine Ahnung«, murmelte Tigwid. »Wahrscheinlich hab ich keine traurigen Erinnerungen an sie. Du weißt also mehr als ich. War sie denn nett?«
    »Nun, sie hat nicht viel gesagt.«
    »Und hübsch?«, fragte er bitter.
    Vampa fühlte etwas Seltsames in seinem Inneren, wie eine heiße, drückende Übelkeit, doch sie war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. »Ich, ich habe sie ja nur
durch deine Erinnerung gesehen. Und da war sie… ja, also, ja. Das war sie.«
    Tigwid vergrub wieder das halbe Gesicht hinter den Armen und blickte abwesend an die schimmelige Wand gegenüber. »Ein Teil meines Lebens, noch dazu der schönste… einfach weg. Und ich hab mich immer gefragt, wieso ich nie glücklich war. Das ist ein Albtraum! Mein ganzes Leben ist ein Albtraum! Ich lebe das, was für dieses Buch nicht gut genug war, ich lebe die - die Reste, die zu langweilig oder hässlich oder traurig waren, um aufgeschrieben zu werden!« Er zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ich klau Geld und Schmuck, aber die klauen Menschen. Die klauen Glück. Mein Glück!«
    »Weißt du«, begann Vampa leise, »ich wünschte, ich hätte wenigstens die schlechten Erinnerungen. Menschen sind wie Gärten, weißt du, mit Blumen und Knospen und Unkraut. Bei dir hat

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