Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
Eine Tänzerin schrie, als ein Polizist sie an den Haaren festhielt. Dann schlug eine zweite Tänzerin den Mann mit einem Stuhl nieder. Die beiden Frauen rannten blindlings in eine Richtung und wurden von einer ganzen Polizeitruppe aufgefangen.
    Tigwid torkelte wie benommen durch die Zerstörung.
    Ein Blaurock packte ihn grob am Arm, schwenkte ihn herum und zog ohne langes Zögern Handschellen aus seinem Gürtel. Tigwid holte mit dem Fuß aus, als wollte er ihm einen Tritt verpassen; der Polizist wich mit dem Unterkörper zurück. Darauf hatte Tigwid nur gewartet. Blitzschnell holte er mit der freien Hand aus und gab dem Mann links und rechts vier flinke Ohrfeigen. Ein klassischer Zug. Schmerzvoller, als es aussah, und höchst verwirrend für das Opfer.
    Doch der Polizist erholte sich erstaunlich schnell, schnappte nach Tigwids Kehle und begann, unter wilden Flüchen zu würgen. Tigwid zerrte an den Wurstfingern, doch sie hielten ihn fest wie Schraubstöcke. Er bekam keine Luft mehr. Funken
tanzten vor seinen Augen … Da sah er seine Rettung: Eine große Wetttafel stand genau vor ihnen. Tigwid konzentrierte sich mit aller Macht … Plötzlich erbebte die Tafel. Ein Zittern durchlief die Holzständer, dann krachte die Tafel vornüber und begrub den Polizisten unter sich. Tigwid war gerade rechtzeitig zur Seite gesprungen. Die Handschellen klapperten auf den Boden.
    Zitternd befühlte er seinen Hals. Normalerweise hätte er seine Mottengabe nicht so öffentlich eingesetzt, doch angesichts des Chaos war es gewiss niemandem aufgefallen.
    Er ging ein paar Schritte rückwärts, dann drehte er sich um und lief über den scherbenübersäten Boden. Vor ihm lag die Tür, die geradewegs aus Bluthundgrube und hinauf zur Rezeption führte. Wenn er Glück hatte, schaffte er es bis in Fräulein Friechens Teestube, dann durch den Ausgang und den Hinterhof, durch das Loch im Zaun … Er sah die Straße vor sich, die ihn in das Gassenlabyrinth des Armenviertels entlassen würde, direkt hinein in die Freiheit. Er klammerte sich an dieses Bild. Gleich. Gleich war er dort.
    Schüsse trafen den großen Thekenspiegel rechts von ihm und Tigwid hob schützend die Arme. Tausend glänzende Splitter flimmerten in der Luft.
    Plötzlich taumelte ein Junge vor ihn. Er trug Bandagen um die Fäuste und kein Hemd. Schwarze, zerfranste Haare hingen ihm in die Stirn. Er sah Tigwid an. Ein merkwürdiges Entsetzen loderte in seinen dunklen Augen auf, und auch Tigwid erschrak - aber noch im gleichen Moment vergaß er, wovor. Er wich dem Jungen aus und lief an ihm vorbei. Endlich hatte er die Tür erreicht. Vor ihm lag ein Wächter auf dem Boden und rührte sich nicht.
    »Gabriel.«
    Der Name traf ihn wie eine Kugel. Tigwid drehte sich um.
    Vor ihm stand der Junge mit den schwarzen Haaren. Er
starrte ihn an, als höre er weder die Schüsse noch das Schreien und Brüllen rings um sie.
    Aber Tigwid hatte jetzt keine Zeit, um sich verwirren zu lassen. Er drehte sich um, ließ den merkwürdigen Jungen stehen und stieg über den toten Wächter hinweg.
    »Du kannst nicht da hoch«, hörte er den Jungen hinter sich sagen. Obwohl er klar sprach, fiel es Tigwid schwer, ihn zu verstehen. Es war, als ergaben seine Worte keinen Sinn.
    »Da oben sind mehr als zweihundert Polizisten. Und von Minute zu Minute werden es mehr.«
    Tigwid trat einen Schritt zurück und stellte sich dicht vor den Jungen. »Ach ja?«
    »Ja.«
    »Und warum tust du so, als würdest du nicht mit in der Kacke stecken?«
    Der Junge musterte einen Augenblick lang Tigwids Gesicht, auf dem sich Schweiß und Blut, Wut und Angst und Verzweiflung mischten.
    »Wenn es noch einen Ausweg gibt, dann durch Labyrinth und den Untergrund.«
    Tigwid zog den Kopf ein, als ein Schuss über ihn hinwegpfiff. Der Junge bewegte sich keinen Zentimeter.
    »Und ich geh mal davon aus, dass du mir den Weg zeigen willst, oder?«, keuchte er.
    »Ja.«
    »Du gehörst nicht zufällig zu diesen Dichtern?«
    Der Junge schwieg einen Moment, obwohl es nicht so aussah, als würde er darüber nachdenken. Sein Gesicht sah nach gar nichts aus. »Nein, ich glaube nicht, dass ich zu diesen Dichtern gehöre.«
    »Klar.« Tigwid starrte ihn an, und ihm wurde bewusst, was er hier tat: plaudern mit einem Verrückten, während seine Überlebenschance von Sekunde zu Sekunde geringer wurde.
Er warf dem Jungen einen zornigen Blick zu, sprang wieder über den toten Wächter und wollte die Treppe hinaufsprinten, da - erschien über ihm in Reih

Weitere Kostenlose Bücher