Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
über das Gesicht. Spinnweben und Blut klebten daran.
»Geht es dir gut?«, fragte eine monotone Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und sah den Jungen an. Im schummrigen Tageslicht war er noch bleicher; bleich wie der Schnee war er, seine Augen zwei Hohlräume in bläulichen Schatten. Er war angeschossen. Tigwid hatte geglaubt, der Schuss hätte nur seinen Arm gestreift, doch die Kugel hatte ein tiefes Loch in seine Schulter gegraben.
»Grundgütiger«, hauchte er. Der Junge trug nur eine Hose und Schuhe, aber er schien nicht zu frieren. Sein Gesicht gab
kein Gefühl und keinen Gedanken preis. Er sah aus wie eine Leiche, die mit offenen Augen erstarrt war.
»Geht es dir gut?«, fragte Tigwid, obwohl er das nicht für die angemessene Frage hielt. Lebst du noch?, wäre passender gewesen.
Ein merkwürdiges Schimmern wanderte durch die Augen des Jungen. »Dasselbe habe ich dich gerade gefragt… dasselbe. Du und ich.«
»Hä?«
»Ich habe etwas von dir, das du bestimmt wiederhaben willst … Gabriel.«
»Woher kennst du den Namen?«, fragte Tigwid leise.
Der Junge ging bereits die Gasse hinunter. Mit dem Fuß schob er ein Brett zur Seite, damit er vorbeikam. »Ich habe ihn gelesen, den Namen, Gabriel.«
Tigwid atmete schwer ein. »Dann gehörst du doch zu ihnen - du bist auch einer von diesen Dichtern!«
»Nein«, sagte der Junge, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben. Und mehr sagte er nicht.
Nach einem Augenblick beschloss Tigwid, ihm zu folgen.
Es dämmerte. Noch immer hatte der Schneefall nicht aufgehört, unaufhörlich tanzten die Flocken aus dem samtigen Blau des Himmels und machten keinen Unterschied, ob sie sich auf Häusern, Straßen oder zwei flüchtenden Jungen niederließen. Irgendwo läuteten die Glocken einer Kathedrale. Sonst war die Stadt in ihrem dichten Schneepelz verstummt.
Der Junge führte Tigwid zum Fluss, vorbei an den eisgrauen Wellen, zu breiten Kanalrohren und in einen feuchten Unterschlupf. Tigwid wusste gar nicht, wo er seine Füße hinsetzen sollte, so vollgestopft war der kleine Kanalschacht mit Büchern. Der Junge stieß sie nachlässig zur Seite, damit sie sich auf einer zerfledderten Matratze niederlassen konnten.
Dann riss er ein Büschel Seiten aus einem mitgenommen aussehenden Taschenbuch und wischte sich das Blut von der Schusswunde.
»Willst du das nicht untersuchen lassen?«, gab Tigwid zu bedenken.
Der Junge sah ihn eine Weile wortlos an und zuckte die Schultern. »Du kannst mich Vampa nennen.«
»Gut, Vampa. Vampa ?« Tigwid riss die Augen auf. » Der Vampa? Du bist der Vampirjunge aus Bluthundgrube ? Der unsterbliche …« Er verstummte. Bis jetzt hatte er den Vampirboxer von Bluthundgrube für einen Mythos gehalten. Der Junge nickte gleichgültig.
Tigwid fand seine Fassung wieder. »Also, danke, dass du mir geholfen hast. Ich weiß nicht, wieso du das getan hast, aber ich bin dir wirklich -«
»Deshalb habe ich es getan.« Der Junge drehte sich um und zog ein dunkelrotes Lederbuch aus einem Stapel. Mit behutsamen Händen legte er es Tigwid auf den Schoß. Tigwid sah es an, klappte den Deckel auf und strich durch die Seiten. Es war alles handgeschrieben, mit dunkelroter Tinte, ähnlich wie das Buch, das Morbus ihm heute vorgehalten hatte … Tigwid warf Vampa einen argwöhnischen Blick zu. Dann klappte er das Buch zu und stieß es ihm unsanft in die Arme.
»Den Trick hat heute schon mal jemand versucht!« Blitzschnell zog er sein Messer und hielt es Vampa an die Kehle. »So. Jetzt sagst du mir ganz genau, wer du bist und wieso du mich hergebracht hast. Was hat es mit diesen Büchern auf sich? Wieso wollt ihr alle, dass ich sie lese?«
Der Junge sah ihn vollkommen gelassen an. Dann huschte ein wölfisches Lächeln über sein Gesicht. »Angesichts meiner Schusswunde - und sie ist tödlich, in einer Stunde werde ich verblutet sein -, angesichts dessen solltest du wissen, dass dein Messer mich nicht besonders einschüchtert.«
»Wer bist du?«
Vampa senkte den Blick und schloss beide Hände um das Lederbuch. Eine Weile tat er nichts, als es zu betrachten und zu halten. »Es fühlt sich so fest, so echt an. Man kann leicht sagen, was das Buch ist. Ein magisches Gedächtnis, in dem das Leben mit Worten gefangen ist. Wenn ich doch ebenso leicht erklären könnte, was ich bin… Weißt du, wer du bist, Gabriel?«
»Was geht dich das an?«
»Du hast recht. Ich weiß ja schon längst, wer du bist.« Vampa legte ihm wieder das Buch auf den Schoß,
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