Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Erinnerungsraub erzählt.«
Bassar klopfte auf eine Mappe auf seinem Tisch. »Ich weiß.«
»Reichlich unglaubwürdig«, bemerkte Soligo. »Der Kerl hat was von Motten erzählt. Ich sage euch, der will uns an der Nase rumführen.«
»Das denke ich auch«, sagte Mebb nach kurzem Zögern. »Ich weiß nicht, wieso die vermissten Kinder an Gedächtnisschwund leiden. Aber gewiss steckt keine Zauberei dahinter. Ich würde nach einem Nervenarzt oder Chemiker fahnden, der weiß, wie man ein Gift herstellt, das keine Spuren hinterlässt.«
»Also ein intellektueller Psychopath.« Bassar strich sich über die Wangen. Er hatte seit einigen Tagen keine Zeit mehr für eine ordentliche Rasur gefunden und kratzte nervös an seinen Bartstoppeln. »Ich finde die Geschichte unseres jugendlichen Freundes auch nicht sehr überzeugend. Aber
heute Morgen war eine alte Bekannte von uns hier. Apolonia Spiegelgold.«
»Die kleine Nervensäge?«, bemerkte Soligo.
»Ich war nicht da, aber sie hat meinem Sekretär eine ziemlich wirre Geschichte erzählt. Verblüffenderweise ist sie der des Jungen nicht unähnlich.«
Mebb starrte ihn an. »Dann - war die kleine Spiegelgold womöglich das Mädchen, das Frall vor den Zug gestoßen hat? Den Aussagen der anderen beiden Polizisten zufolge ist sie etwa im selben Alter und hat dunkle Haare. Die Beschreibung trifft auf sie zu.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, gab Bassar zu. »Aber Fralls Tod ist eine andere Geschichte. Fest steht, dass die kleine Spiegelgold dasselbe gesagt hat wie der Junge.«
»Aber wieso? Wieso erzählen sie dieses Märchen von Motten?«
»Ist doch glasklar.« Soligo lehnte sich zurück. »Die Kinder wurden von ihrem Auftraggeber, nämlich dem Täter, der hinter den Amnesien und Entführungen steckt, angeheuert, um die Polizei in die Irre zu führen. Vielleicht werden sie erpresst.«
Eine Weile dachte Bassar darüber nach. Aber wieso sollte jemand Kinder eine so absurde Geschichte erzählen lassen? Wäre es denn nicht einfacher, eine konkrete Person anzuschwärzen, anstatt einen Haufen Zauberer zu erfinden?
»Es gibt nur eine Erklärung«, sagte Soligo. »Der Täter ist wirklich geisteskrank. Er macht sich über uns lustig.«
Bassar drückte seine Zigarette aus und ordnete einige Akten auf seinem Tisch, die er heute Nacht noch durcharbeiten wollte. »Wir müssen ein paar Leute zur kleinen Spiegelgold schicken und sie verhören. Nein, ich glaube, ich werde persönlich hingehen. Morgen früh.«
»Was ist mit dem Jungen?«, fragte Mebb.
»Wir lassen ihn laufen.«
»Was?«, empörte sich Soligo. »Der Junge und seine Freunde haben drei Polizisten verprügelt, sind geflohen und haben vielleicht einen Mord begangen! Laufen lassen ?!«
»Unter geheimer Beobachtung«, sagte Bassar. »Der Junge wird bestimmt zu seinem Auftraggeber zurückkehren und ihm alles erzählen. Und dann haben wir mit etwas Glück den Täter, der hinter der Sache steckt.«
Mebb sah aus dem Fenster. Es war bereits finster draußen und die Glasscheibe zeigte nur noch ihre Spiegelbilder. »Der Junge wird Verdacht schöpfen, wenn wir ihn einfach laufen lassen. Er ist sowieso schon sehr misstrauisch. Was an den Methoden gewisser Leute liegen könnte.« Sie warf Soligo einen kurzen Blick zu, aber der Kommissar bemerkte es nicht.
»Damit der Junge nichts riecht, inszenieren wir ein kleines Schauspiel. Dabei kann uns eine Bekannte aus Eck Jargo behilflich sein.« Bassar zog ein Blatt aus seinen Unterlagen und übergab es Mebb.
Ein dünnes Lächeln flog über das Gesicht der Kommissarin, als sie las. »Oh. Die hat wirklich genug bei uns zu bereinigen. Auch wenn sie schlau genug war, sich nie direkt erwischen zu lassen.«
»Wer?«, wollte Soligo wissen.
»Nun.« Bassar reichte das Blatt an den Kommissar weiter. »Am besten unternehmen Sie, Soligo, eine kleine Spritztour mit dem Jungen.«
Tigwid wurde durch lange Korridore und verlassene Treppen hinabgeführt. Bald blieben die grün gestrichenen Flure und die elektrischen Lichter hinter ihnen zurück. Petroleumlampen erhellten die steinernen Mauern.
»Machen wir einen Museumsausflug?«, bemerkte Tigwid,
als sie unter einem runden Torbogen hindurchliefen, der statt an moderne Sicherheit eher an einen Weinkeller erinnerte.
Zur Antwort versetzte Kommissar Soligo ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter. »Klappe halten!«
Tigwid war klug genug, dem Befehl nachzukommen. Vermutlich waren alle Gefängnisse nach der Stürmung von Eck Jargo
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