Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
so voll, dass man ihn in dieses uralte Verlies verfrachtete. Vor ihnen tauchte eine halb geöffnete Eisentür auf, durch die kalter Wind und Schneeflocken wehten. Soligo schob die Tür weiter auf und ein rostiges Quietschen hallte durch den Gang. Tigwid blickte ungläubig in einen verschneiten Gefängnishof. Hohe Backsteingebäude erhoben sich ringsum, nur rechts trennte ein doppelter Stacheldrahtzaun den Hof von einer schmalen Straße. Im Licht der Laternen parkte ein Polizeiwagen, zu dem Soligo Tigwid bugsierte. Ein Blaurock stieg aus und öffnete die Hintertür, dann fasste Soligo Tigwid am Nacken und schubste ihn in den Wagen.
»Wo bringt ihr mich hin?«, rief Tigwid, als er sich wieder aufgerappelt hatte.
Mit einem verächtlichen Grinsen schlug Soligo die Tür zu und schloss ab. Tigwid lauschte seinen Schritten draußen im Schnee, drehte sich um und beobachtete durch eine Gitterabsperrung, wie Soligo und der Blaurock sich nach vorne setzten. Der Motor sprang an und sie fuhren zum Tor im Zaun. Soligo und der Blaurock zeigten dem Pförtner ihre Dienstausweise. Tigwid beugte sich dicht ans Gitter, um zu hören, was sie sagten.
»Wegen Überfüllung … in die Ersatzzellen bringen.«
Der Pförtner nickte Soligo verstehend zu. Das Tor wurde geöffnet und sie verließen den Hof. Der Motor brummte lauter, bis er in ein gleichmäßiges Grummeln verfiel. Draußen wirbelten die Schneeflocken an den Fenstern vorbei und verwischten die Finsternis zu flimmernden Strähnen. Tigwid
lehnte den Kopf gegen das Gitter. Er hatte sich immer erträumt, mal in einem Automobil zu fahren. Allerdings nicht zu seiner nächsten Gefängniszelle.
Er schlang die Arme um die Beine und wärmte sich die Knie mit seinem Atem. Sein Kopf schmerzte noch von den Schlägen der Polizisten. Er hatte Beulen, die sich anfühlten, als wären ihm ein paar Köpfe mehr gewachsen. Und er war müde - so schrecklich müde nach den langen Verhörstunden! Aber trotz des angenehmen Schaukelns und Rumpelns wagte er nicht einzunicken. Zum tausendsten Mal schweiften seine Gedanken zu Apolonia und Vampa. Wahrscheinlich waren sie jetzt unterwegs, irgendwo da draußen, in den Gassen und Straßen, an denen Tigwid so schnell vorbeifuhr, dass er sie nicht einmal erkannt hätte, wenn sie direkt dort gestanden wären. Oder vielleicht waren sie schon längst bei Ferol eingebrochen und hatten das Blutbuch gefunden. Aber wenn die Dichter sie entdeckten! Apolonia hatte zwar ohne Frage die Begabung, ihr Gegenüber mit Worten außer Gefecht zu setzen, doch was ihre Einbruchs- und Fluchtfähigkeiten betraf, zermürbten ihn die Sorgen. Wenn er doch nur …
Ein schrilles Bremsgeräusch erklang, der Wagen schlenkerte nach links und rechts und Tigwid stieß hart mit dem Gesicht gegen das Gitter. Laute Stimmen erklangen. Benommen öffnete Tigwid die Augen. Die Fahrertür wurde aufgerissen und ein maskierter Mann zerrte den Blaurock aus dem Auto. Tigwid blinzelte. Träumte er? Jetzt wurde auch Soligo von einem unbekannten Maskierten vom Sitz gezogen. Draußen tanzte der Schnee im Scheinwerferlicht… da liefen Gestalten umher … mehrere Wagen versperrten die Straße.
Tigwid schrak auf, als die Tür hinter ihm aufgerissen wurde. Ein Schatten fiel über ihn. Dann erkannte er schemenhaft ein Gesicht, umrahmt vom weißen Licht der Scheinwerfer.
»Komm schnell!«
»Dotti?« Tigwid keuchte. Das war doch unmöglich! »Was machen Sie hier?«
»Dich rausholen. Jetzt komm!«
Entgeistert kletterte Tigwid aus dem Wagen und starrte Dotti an. Sie atmete schwer und starrte zurück und für mehrere Augenblicke waren beide sprachlos.
»Was ist hier los?«, brachte er endlich hervor. Dottis Lippen öffneten sich, schlossen sich wieder und begannen zu beben.
»Ich war es«, hauchte sie kaum hörbar. »Die Polizisten in der Lagerhalle…« Sie verbarg den Mund hinter zitternden Händen, dann zog sie Tigwid an sich. Er spürte ihren Schnapsatem am Ohr. »Es ist alles geplant, die Fahrt und dieser Überfall und ich - die Maskierten, das sind Blauröcke. Sie verfolgen dich.«
»… Was?«
Dotti ließ ihn los, trat mehrere Schritte zurück und warf einen Blick zu den verkleideten Polizisten.
»Sag Vampa, es tut mir leid«, hauchte sie. Dann drehte sie sich um und schritt gefasst zu den maskierten Männern.
Tigwid schluckte schwer. Durch den Wagen konnte er die Männer sehen, die den Fahrer und Soligo mit Pistolen in Schach hielten. Sie hatten ihm den Rücken gekehrt und sahen gar nicht in
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