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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Vampa eine Hand darauf, als könne das Buch aufschnappen - oder Apolonia es ihm wegreißen. »Es ist Der Junge Gabriel .«
    Es dauerte einen Moment, ehe Apolonia verstand. »Tig… Gabriels Buch, das echte?«
    Vampa nickte.
    »Gib es mir.« Apolonia streckte sich nach dem Buch aus, aber Vampa zog es weg. »Du kannst es nicht lesen.«
    Apolonia zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso?«
    »Du hast deine Identität und Vergangenheit. Wenn du Der Junge Gabriel liest, hast du plötzlich zwei und wirst verrückt.«
    Apolonia erinnerte sich an die drei Polizisten in Eck Jargo , die einen einzigen Satz in einem Blutbuch gelesen hatten. Ja, sie wusste von der Macht der Bücher. Aber hatte Morbus nicht gesagt, dass Motten fähig wären, zwei Identitäten zu tragen? Und schließlich war sie sogar resistent gewesen, als Morbus in ihre Erinnerungen eingedrungen war.
    »Ich werde nicht schizophren«, sagte sie entschieden und wollte abermals nach dem Buch greifen. »Ich bin eine Motte. Gib her.«
    »Nein«, antwortete Vampa leise. Er schloss beide Hände um das Buch. »Es ist … Wer die Erinnerungen eines anderen liest, liebt ihn wie sich selbst. Das hast du selbst erzählt.«
    Augenblicklich ließ Apolonia den Arm sinken. »Ach. Ja stimmt … Ich sollte Der Junge Gabriel besser nicht lesen.« Sie schwieg kurz, dann sah sie Vampa fragend an. »Soll das heißen
- du liebst Tigwid?« Sie hätte schwören können, dass er errötete. Aber gewiss war es nur das Licht der Petroleumlampe, das auf seinem totenblassen Gesicht flackerte.
    »Nein. Ich kann nicht lieben.«
    Apolonia zog die Knie an den Körper und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Als sie seinen kalten, reglosen Blick abermals bemerkte, wurde sie unruhig.
    »Was ist denn?«, fragte sie ein wenig gereizt. »Habe ich Popel an der Nase oder was?«
    »Nein. Ich… Hast du Hunger?« Er stand überhastet auf und zog rechtzeitig den Kopf ein, um ihn sich nicht an der Decke anzustoßen. »Du hast lange nichts mehr gegessen. Du brauchst Essen, sonst bekommst du wieder einen Schwächeanfall.«
    »Wo willst du hin?«
    »Ich besorge dir etwas zu essen. In Ordnung?« Irgendetwas in seinem Gesicht verzerrte sich; es schien, als versuche er zu lächeln. Er öffnete die Lippen und zeigte die Zähne. Im schummrigen Licht sah er wie ein Totenkopf aus. Apolonia lächelte nicht zurück.
    »Ich bin gleich wieder da. Gleich. In Ordnung?« Nach einem Augenblick legte er das Blutbuch behutsam auf einen Bücherstapel. Dann verschwand er hinter der Zimmerwand.
    Apolonia hörte, wie seine Schritte verhallten, und überlegte, was sie nun tun sollte. Wann war sie das letzte Mal zu Hause gewesen? Es schien Jahre zurückzuliegen. Als sie den zerbrochenen Spiegel bemerkte, der über der Matratze lehnte, betrachtete sie sich: Sie sah ja aus wie eine Bettlerin! Entsetzt strich sie sich über die strähnigen Haare und die schmutzigen, bleichen Wangen. Sie fühlte sich also nicht nur, als wäre sie Jahre nicht zu Hause gewesen, sie sah auch so aus.
    Mit einem Seufzen wandte sie sich vom Spiegel ab. Und ihr Blick fiel auf Tigwids Blutbuch.

    »Das ist also Gabriel«, murmelte sie. Nach kurzem Zögern kroch sie unter den Decken hervor. Ihre Finger zuckten zurück, als sie das Buch berührte - doch schließlich war es ein Buch, kein Lebewesen. Was sollte schon passieren? Apolonia nahm es in die Hände und musterte den roten Ledereinband. Er war schlicht und ohne Aufschrift. Ein paar dunkelbraune Flecken von getrocknetem Blut waren zu erkennen.
    Hier hielt sie also Tigwids schönste Erinnerungen in den Händen. Es war bizarr. Für einen Augenblick überlegte sie, wie es wäre, wenn ihre Erinnerungen in einem Blutbuch stünden. Wäre sie dann noch sie selbst? Was machte überhaupt ›ihr Selbst‹ aus? Vampa hatte seine Identität mit seinen Erinnerungen verloren, seine Menschlichkeit aber war ihm mit seinen Gefühlen geraubt worden. In gewisser Weise war er tatsächlich eine Leiche, ein leerer Körper, dessen Seele in einem endlosen Schlaf aus Buchstaben gefangen war. Oder? Oder hatte nur der Geist, nicht aber die Seele etwas mit Erinnerungen zu tun? Aber was war schon eine Seele, wenn nicht die Gabe zu fühlen und zu empfinden …
    Apolonia strich mit den Fingern über das kühle Leder und stellte sich vor, dass das tatsächlich Tigwid war. Aber nein. Dieses Buch hatte nichts mit dem Tigwid zu tun, den sie kannte. Der Junge im Buch war ein Zwilling aus einer parallelen Traumwelt, nur real in der Vergangenheit,

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