Nördlich des Weltuntergangs
Reformati on und gefährde die schlichten, frommen Bräuche der lutherischen Kirche.
Beide Predigten waren nicht übel. Eemeli Toropainen fand, dass die heutigen Pastoren ihre Sache besser machten als die dicken Pröbste vergangener Zeiten. Die Konkurrenz in den geistlichen Arenen war gnadenlos hart geworden und zwang auch die Vertreter dieses Berufes, ihr Bestes zu geben, wenn sie sich ihr täglich Brot verdienen wollten.
Dann stieg der dritte Kandidat, vielmehr die Kandida tin, auf die Kanzel. Die Feldgeistliche Tuirevi Hillikainen begann mit so viel Pathos und Intensität zu predigen, dass die beiden vorhergehenden Auftritte gleich nach ihren ersten Sätzen vergessen waren. Die Frau war knapp dreißig, konnte aber reden wie eine Alte. Tuirevi Hillikainen war groß und ziemlich starkknochig, sie hatte eine kolbenförmige Adlernase und eine breite Kinnlade. In einem Boxring hätte sie mit einem einzigen Schlag einen starken Mann besiegen können. Sie press-te die Hände um das Geländer der Kanzel, dass die Knöchel weiß hervortraten, und schmetterte ihre Bot schaft in den kreuzförmigen großen Saal.
Tuirevi Hillikainen beschäftigte sich in ihrer Predigt mit dem schwachen Fleisch des Menschen und führte dazu eine Reihe erschütternder Beispiele auf. Sie warf einen Blick auf die religiösen Zustände in Europa und der übrigen Welt und kam zu dem Ergebnis, dass die ganze Menschheit ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen werden müsste, und zwar für das Tempo und die Quantität der begangenen Sünden. Diesen globalen Ausblick verband die Pastorin mit der nach drücklichen Prophezeiung des Weltuntergangs, der ihrer Meinung nach unmittelbar bevorstand. Die Leute lauschten reglos dieser Posaune des Jüngsten Gerichts. Als Tuirevi Hillikainen von der Kanzel herabstieg, ent stand in den nächststehenden Kirchenbänken eine leichte Panik, während die Pastorin mit wehendem Talar vorbeischritt.
Niemandem blieb auch nur der geringste Zweifel, wer zum Pastor der Einödkirche am Ukonjärvi gewählt wür de. Nachdem die beiden männlichen Kandidaten abge reist waren, zeigte Eemeli der Pastorin das Pfarrhaus, in
dem sie zwei Zimmer zum Wohnen und einen kleineren Raum als Amtszimmer bekommen sollte. Ein Teil des Gehaltes würde in Geld ausbezahlt, das meiste jedoch in Form von Sachbezügen, zu denen außer der kostenlosen Unterbringung noch die folgenden Lebens- und Nah rungsmittel gehörten: pro Monat drei Kilo Elchfleisch, zwei Metzen Kartoffeln, ein Kilo Butter, eine Metze Rog-gen oder wahlweise eine halbe Metze Hafer und eine halbe Metze Weizen sowie ein halbes Kilo Speck, außer dem ein Fass mit kleinen Maränen und weiteren Fisch für den Winter.
Zusätzlich zu diesen Nahrungsgütern versprach Ee meli ihr noch kostenlose Heizung, ein eigenes Stück Garten mit der dazugehörigen Menge Kuhdung und einen Kellerverschlag für die Aufbewahrung von Hack früchten. Außerdem stehe ihr die Sauna frei zur Verfü gung, ebenso das Boot und ein Netz zum Fischen. Diese Sachbezüge deckten im Großen und Ganzen alle Erfor dernisse ab, und die Pastorin war damit zufrieden. Als Gegenleistung sollte sie Gottesdienste halten, die Kinder taufen, die Brautpaare trauen und die Toten beisetzen. Ferner sollte sie im Bedarfsfall für kleinere Gruppen Andachten abhalten, zum Beispiel während der Heuern te auf der Wiese. Auch in Vorbereitung der Elchjagd wäre eine Gebetsstunde zur Absicherung einer mög lichst reichen Beute wünschenswert. Dasselbe galt für den Fischfang und Ähnliches. Tuirevi Hillikainen akzep tierte ihr Aufgabengebiet, und sie hatte auch keine Einwände dagegen, das Fischerei- und Jagdglück mithil fe von Gebeten zu beschwören. Ein Versuch lohnte immer! Als Feldgeistliche war sie daran gewöhnt, An dachten unter freiem Himmel abzuhalten.
»Die Natur ist der größte und schönste Tempel des Herrn, vor allem bei trockenem Wetter«, erklärte sie.
19
Pastorin Tuirevi Hillikainen machte sich an die Arbeit. Sie erklärte, dass als Erstes die Kirche geweiht werden müsse. Laut Paragraph 340 des Kirchengesetzes sei es nicht gestattet, ohne Weihe darin Gottesdienste oder andere geistliche Veranstaltungen abzuhalten. Die Pas torin bat das Bistum Kuopio um Unterstützung in der Angelegenheit, aber von dort ließ der Domprobst Ansel-mi Leskelä mitteilen, das Bistum wolle nichts mit einer illegal gebauten Kirche zu schaffen haben. Toropainen solle mit seiner Kirche machen, was er
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