Nomadentochter
vom Hinfallen. Der Anblick schien Mama zu erschrecken, aber sie hatte keine Angst. Leise schlich ich mich hinter sie. Ich wollte auch eine Heilerin werden und genau wissen, was sie tat.
Meine Mutter blickte zu den Männern hinüber, die Tee tranken. Der Fremde stellte sich als entfernter Vetter meines Vaters heraus. Er war nicht so groß wie mein Vater, hatte einen seltsam geformten Kopf und einen langen Hals wie ein Strauß. Sie beobachtete ihn, wie er seinen Tee trank und mit meinem Vater über irgendeine politische Partei und die Kämpfe im äthiopischen Ogaden redete, um ihn als Mensch einzuschätzen. Dann betrachtete Mutter das getrocknete Kamelblut und die Haare am Ende seines Stocks. Sie stand auf und trat langsam zu dem Kamel, wobei sie beruhigende Laute von sich gab. »
Allah bah wain
, Gott ist groß«, murmelte sie. Sie legte ihre Hand an die Backe des Kamels und fuhr ganz zart mit den Fingerspitzen über den langen Hals und die Schulter bis zum Bauch. Das Kamel wich nicht zurück, aber es zuckte die ganze Zeit. Mama tastete den Bauch ab, um das neue Leben zu spüren. Die Stute war so dünn, dass trotz der Trächtigkeit ihre Rippen hervorstanden. Jetzt legte Mama ihr Ohr an den Bauch, um dem Herzschlag des Fohlens zu lauschen. Dann trat sie langsam zurück und zerrieb etwas von dem Schaum, der aus den schwarzen Lippen des Tieres troff, zwischen den Fingern. Sie öffnete das Maul des Kamels und sah sich die dicke Zunge und die Zähne an. Als das Tier pisste, nahm sie ein wenig von dem nassen Sand und roch daran. Anschließend wartete sie auf den richtigen Zeitpunkt, weil sie die Sonne beobachtete, die langsam hinter den fernen Hügeln versank. Sie kannte den Lauf der Sterne und wusste, wann die
gu
-Regen in die
hagaa
oder Trockenzeit übergingen. Immer wusste sie, wann etwas getan werden musste und wann es besser war, zu warten.
Mama ergriff den geflochtenen Strick und zog daran, um das Kamel zum
faardisimo
, zum Hinsetzen, zu bewegen. Ich sah, wie sich die langen Ohren nach der Stimme meiner Mutter ausrichteten, als ob sich das Tier nach ihr sehnte. Schwerfällig setzte es sich hin. Zuerst kniete es sich auf die Vorderbeine, dann knickten die Hinterläufe ein, und es zog die Beine unter sich. Kamelen wird beigebracht, sich hinzuknien, weil sie zu hoch sind, um stehend beladen zu werden. Mama hockte sich hin, sodass ihr Gesicht genau in Augenhöhe des Tieres war.
Im Lager wurde es still. Die Männer hörten auf zu reden, die Frauen hörten auf, mit den Töpfen zu klappern. Selbst der Rauch des Feuers schien innezuhalten. Mama umschloss den Kopf des Kamels mit beiden Händen, als sei es ein Kind. Sie blickte ihm direkt in die Augen – dann gab sie ihm sanfte Klapse. »Verschwinde, du Teufel, verschwinde von hier! Du bist nicht erwünscht!« Irgendwie wusste sie genau, wie viele Klapse sie ihm geben musste und wie fest sie sein mussten, damit der
djinn
entwich. Dann nahm sie das Lederamulett mit den heiligen Worten des Koran, das sie um den Hals trug, und legte es dem Tier an die Nase, dem Eingang zur Seele. Das Kamel hielt völlig still – plötzlich hörte das Zittern auf, und es käute wieder, wie alle Kamele es tun, wenn sie sich ausruhen.
Mama stand auf und bedeckte ihr Gesicht mit ihrem
chalmut
, dem Schal, bevor sie zu meinem Vater und seinem Vetter trat. Mit gesenktem Blick sagte sie ihnen, ein böser Geist, ein
djinn
, sei in das Kamel gefahren und habe die Anfälle verursacht. »Sie wird bald ihr Fohlen zur Welt bringen«, fuhr Mama fort, »noch bevor der Mond dunkel ist. Der
djinn
, der die Anfälle verursacht hat, ist jetzt weg – aber die Kamelstute braucht Ruhe und zusätzliches Futter und Wasser, bis sie geworfen hat. Das wird ihr helfen, den
djinn
abzuwehren, wenn er zurückkommt.«
»Sie frisst nicht«, wandte der Vetter ein.
»Weil sie Angst hat vor dem Teufel«, erklärte meine Mutter. »Du musst sie streicheln und ruhig auf sie einreden, dann frisst sie auch und setzt wieder Fett an.«
»
Hiiyea
, ich verstehe!« Mein Vater und sein Vetter nickten gleichzeitig.
»Wir werden eine Ziege schlachten, ein Festmahl kochen und zu Allah beten, um den
djinn
fernzuhalten«, sagte mein Vater. Als er Ziege sagte, bin ich wohl zusammengezuckt, denn er blickte in meine Richtung und entdeckte mich. Bevor ich weglaufen konnte, hatte er mich grob am Arm gepackt. Er zog mich zu sich heran und schlug mir so fest ins Gesicht, dass ich das Blut schmeckte, das mir aus der Nase lief. Bevor er noch
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