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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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schon spät, als ich im Hotel ankam, und ich wusste nicht, dass in vielen verschiedenen Sälen Veranstaltungen stattfanden. Schließlich wies man mir den Weg in den Ballsaal. Als ich die Flügeltüren öffnete, sah ich erstaunt, dass sich fünf- oder sechshundert Menschen in dem riesigen Raum befanden. Nancy Leno, die Organisatorin, saß mit den anderen Teilnehmern der Podiumsdiskussion bereits auf der Bühne. In Situationen wie dieser habe ich gelernt, mich so zu verhalten, als wüsste ich ganz genau, was ich tue. Ich holte tief Luft und stieg mit hoch erhobenem Kopf die Stufen zur Bühne hinauf. Nancy stand auf, um mich zu begrüßen. Sie gab mir ein sicheres Gefühl, und ihre Freundlichkeit nahm mir meine Nervosität.
    Ich diskutierte mit einer Anwältin, die auf Asylrechtsfragen spezialisiert war, und einer sudanesischen Ärztin. Beide bestätigten mit Fakten und Zahlen meine Aussagen. Man schätzt, dass ungefähr siebzig Millionen Frauen Opfer althergebrachter Praktiken sind; die Wurzeln dieser Prozedur liegen jedoch im Dunkeln. Weltweit wird die Praxis unterschiedlich streng gehandhabt. Sunna heißt die Entfernung der Spitze der Klitoris. Bei der Ausschneidung werden auch die Schamlippen entfernt. Die schwerste Form der Verstümmelung erleiden die Mädchen in Somalia. Sie wird pharaonische Beschneidung oder Infibulation genannt. Die Klitoris und die gesamten inneren Schamlippen werden dabei weggeschnitten, und die Wunde wird so zugenäht, dass nur noch eine winzige Öffnung bleibt. Die Ärztin sagte, bei vierundachtzig Prozent der ägyptischen Mädchen zwischen drei und dreizehn würde die Beschneidung vorgenommen. Auch sei sie nicht mehr auf muslimische Länder beschränkt – mittlerweile haben schon über sechstausend Mädchen in westlichen Ländern diese Prozedur ebenfalls über sich ergehen lassen müssen.
    Ich versuchte zu erklären, was mir als Kind in Somalia widerfahren war und welche Schwierigkeiten ich beim Wasserlassen und bei der Menstruation gehabt hatte. Meine Mutter sagte mir, ich solle nicht so viel trinken, damit die Öffnung klein bliebe, und ich solle auf dem Rücken schlafen, damit die Wunde flach und glatt verheile. Die Genitalien eines nicht beschnittenen Mädchens gelten als unrein und unschön. Sie glaubte, das würde meine Zukunft sichern – da Mütter für ihre Söhne beschnittene Frauen wollen. Sie glaubte auch, wie alle in meinem Volk, dass der Koran es befahl.
    Über meine Genitalverstümmelung zu reden erschien mir als Segen und Fluch zugleich. Ich war froh, dass die Leute etwas über diese grausame Sitte wissen wollten; aber zugleich musste ich all die Schmerzen und das Elend, das sie über mein Leben gebracht hatte, noch einmal durchleben. Immer wenn ich über die Genitalverstümmelung an Frauen sprach, sagte ich damit etwas gegen meinen Vater, meine Mutter und den Glauben meines Volkes. Ich denunzierte meine Familie und eine Tradition, die ihnen sehr viel bedeutete. Ich wollte den Frauen helfen, die diese schmerzhafte Erfahrung gemacht hatten – aber dadurch wurde ich zur Feindin meines Volkes. Wenn ich noch bei meiner Familie gelebt hätte, hätte ich es sicher nicht gewagt, so in die Öffentlichkeit zu treten; wir sprechen natürlich nicht über solche Dinge. Deshalb hatte ich jedes Mal Angst, wenn ich dieses Thema vor einer größeren Zuhörerschaft anschnitt. In meiner Kultur gibt es Dinge, die tabu sind, wie der Tod oder die Schönheit eines Menschen. Wir haben viele Geheimnisse – denn wenn man sie ausspricht, passiert ganz bestimmt etwas Schreckliches. Ich wurde wütend, als die Anwältin sagte, weibliche Beschneidung sei eigentlich Folter. Meine Mutter hatte mich nicht foltern lassen. Sie glaubte doch nur, ich würde dadurch zu einer reinen Frau. Einer guten Gattin und Mutter. Einer Frau, die ihrer Familie zur Ehre gereichte.
    Nach meinem Vortrag stellte das Publikum viele Fragen, aber ich schämte mich und hatte das Gefühl, kein Wort mehr hervorbringen zu können. Ich verließ den Saal durch die Seitentür, stieg in den Aufzug und fuhr in den neunzehnten Stock. In so hohen Gebäuden habe ich immer Angst. In meiner Kindheit war die Welt flach und offen; in einer kleinen Schachtel irgendwo hinaufzufahren, erfüllt mich mit Schrecken. Es ist so unnatürlich.
    Meine Hand zitterte, als ich mit der Karte die Tür öffnete und das »Bitte nicht stören«-Schild an die Klinke hängte. Ich zog die braunen Vorhänge zu, um das Licht auszusperren. Es war ein klarer,

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