Norden ist, wo oben ist
Köchin, der Gärtner und die Putzfrauen vier Wochen frei. Der Gärtner hat zwar gemotzt, weil hinterher der Rasen so hoch sein wird wie eine Bambusplantage. Aber mein Vater mag es nicht, wenn jemand in seiner Abwesenheit da ist.
Die Villa ist komplett sturmfrei und ehrlich gesagt, habe ich mich darauf am meisten gefreut: das Haus ganz für mich zu haben. Nicht um irgendwelche wilden Partys zu feiern, sondern um alleine zu sein. Vier Wochen, in denen niemand etwas von mir will oder fragt: „Und? Was machen wir jetzt?“
„Und? Was machen wir jetzt?“, fragt Mel von der Seite. „Sollen wir gucken, ob irgendwo ein Fenster offen ist?“
„Nicht nötig“, antworte ich und seufze einmal tief.
Wo habe ich mich da bloß reingeritten?
Ich krame den Schlüssel aus meiner Hosentasche, aber so, dass Mel ihn nicht sehen kann. „Ich habe einen Dietrich. Mein Vater ist Schlosser, da braucht er so was.“
„Ich dachte, der ist Klempner“, bemerkt Mel und schaut mich misstrauisch an.
Da hat sie mich erwischt. Ich muss besser aufpassen.
„Auch. Der ist Klempner und Schlosser, von einem Job allein kann heute keiner mehr leben“, erwidere ich und stecke den Schlüssel schnell ins Schloss. Dann wackele ich ein bisschen übertrieben damit herum. Kurz darauf springt die Tür auf und ich mache eine einladende Bewegung, um Mel den Vortritt zu lassen.
„Ich bin doch nicht blöd! Du gehst zuerst. Falls da drinnen ein Hund ist oder eine Selbstschussanlage!“, erwidert sie, und weil ich weiß, dass es bei uns weder das eine noch das andere gibt, betrete ich mutig die Empfangshalle. Gleich rechts hinter der Tür ist die Schalttafel für die Alarmanlage. Aber die ist kein Problem, weil ich den Code kenne. Um ein bisschen anzugeben, stelle ich mich in Denkerpose vor das Display, ehe ich die richtige Zahlenkombination eingebe und die grüne Diode den Weg ins Haus freigibt. Falls Mel das imponiert, lässt sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
Es ist seltsam, mein eigenes Haus zu betreten, als wäre es das erste Mal. Mel zuliebe spiele ich den Überraschten. „Wow! Ist das riesig!“
Sie kommt zögernd hinterher und im Gegensatz zu mir ist sie wirklich beeindruckt von der großen Marmortreppe, die ins Obergeschoss führt, und den vielen Türen, die von der Halle abgehen.
„Hier kann man toll Fangen spielen!“, ruft sie und tippt mir auf die Schulter. „Du bist!“
Ehe ich mich umgedreht habe, ist sie schon die Treppe hochgesaust. Ich hätte ihr sagen müssen, dass sie ihre Schuhe ausziehen soll. Mein Vater kann es nicht leiden, wenn man im Obergeschoss mit Straßenschuhen herumläuft.
Aber erstens ist es dafür schon zu spät und zweitens hätte das bestimmt merkwürdig geklungen: „Mel, ziehst du bitte die Schuhe aus? Wir sind hier nur zu Besuch.“
Also lasse ich meine Sneakers auch an und renne ihr nach, damit sie keinen Unsinn macht.
Mel läuft vor mir den Flur lang und reißt dabei alle Türen auf. Bei der fünften stoppt sie plötzlich. Es ist das Badezimmer. Wobei Zimmer etwas untertrieben ist. Die Wanne darin ist größer als das Nichtschwimmer-Becken einer durchschnittlichen Badeanstalt. Ich kann damit leben, weil wir draußen im Garten noch einen großen Pool haben.
„Kannst du dir vorstellen, hier zu wohnen? So richtig?“, fragt Mel, als sie bemerkt, dass ich neben ihr stehe.
Ich schüttele den Kopf, weil ich nicht schon wieder lügen will.
„Ich auch nicht. Willst du wissen, was ich denke?“
Eigentlich nicht, aber sie erwartet eh keine Antwort.
„Ich denke, man muss ein ziemlicher Kotzbrocken sein, um sich so ein Badezimmer leisten zu können“, fährt sie fort. „Wenn das mir gehören würde, dürften alle Kinder aus der Umgebung einmal die Woche vorbeikommen, um hier eine Schaumparty zu feiern.“
„Woher willst du wissen, dass sie das nicht dürfen?“
„Das glaubst du doch selbst nicht!“
Natürlich nicht, deshalb schlage ich ihr einfach auf die Schulter und rufe: „Du bist!“
Dann renne ich die Treppe runter, um sie aus dem Obergeschoss zu locken, wo auch mein Zimmer ist.
Ich nutze den Heimvorteil und vergrößere meinen Vorsprung, bis ich wieder in der Eingangshalle ankomme.
Als Mel mich erreicht, ziehe ich mir gerade die Schuhe aus.
„Was machst du da?“, fragt sie verwundert.
„Siehst du doch“, antworte ich.
„Klar sehe ich das! Ich will wissen, warum?“
„Wegen der Spuren auf dem Parkett. So ein Sohlenabdruck ist unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. Oder
Weitere Kostenlose Bücher