Norden ist, wo oben ist
willst du, dass die Polizei uns gleich schnappt?“
Weil sie das natürlich nicht will, folgt sie meinem Beispiel. Ich bin enorm erleichtert. Bei seinem Parkett versteht mein Vater nämlich keinen Spaß.
„Ich habe Hunger“, sagt Mel, als sie ihre Schuhe ausgezogen hat.
„Da vorne ist die Küche“, antworte ich und zeige in die richtige Richtung.
„Woher weißt du das?“, fragt Mel.
„Wissen ist zu viel gesagt“, rede ich mich schnell heraus. „Ich nehme an, dass sie da irgendwo ist. Ist nur so eine Vermutung.“
Ich muss wirklich besser aufpassen!
Meine Vermutung erweist sich wundersamerweise als Volltreffer. Mel stürzt sich sofort auf den Kühlschrank. Der steht gegenüber der Eingangstür und Mel schlittert die fünfzehn Meter auf Socken über die glatten Fliesen.
„Mann, habe ich Hunger! Kalte Pommes sind ja nicht schlecht, aber jetzt brauch ich was Richtiges“, verkündet sie und reißt die Tür auf.
Plötzlich merke ich, wie mir der Magen knurrt. Im Gegensatz zu Mel habe ich noch nicht einmal kalte Pommes gegessen. Gefrühstückt habe ich heute Morgen auch nicht. Seit meiner letzten Nahrungsaufnahme sind mehr als sechzehn Stunden vergangen und mein Magen knurrt wie eine Löwenmama mit fünf Jungen, der in der Serengeti eine leichtsinnige Touristengruppe über den Weg läuft.
Mel steht vor dem Kühlschrank und sieht enttäuscht aus. Dabei ist der Kühlschrank randvoll mit frischem Zeugs, vor allem Obst und Gemüse.
„Da ist überhaupt nichts zu essen drin!“, sagt Mel.
„Wieso? Ist doch alles da!“, entgegne ich verständnislos.
„Aber nichts Fertiges! Oder siehst du irgendwo eine Tiefkühlpizza?“
Ich seufze wieder tief und schnappe mir das Obst: eine Papaya, einen Apfel, fünf Erdbeeren, eine Mango und drei Bananen. Ich brauche nicht lang zu suchen, bis ich ein Küchenbrett und ein scharfes Messer gefunden habe – natürlich nicht, ist ja meine Küche. Aus den Zutaten zaubere ich einen Obstsalat, den ich am Schluss noch mit etwas Ahornsirup aus dem Kühlschrank verfeinere. Mel schaut mich an, als würde ich vor ihren Augen eine Jungfrau verschwinden lassen.
„Esst ihr nie frische Sachen?“, frage ich und halte ihr die Schüssel hin.
„Nö! Wozu, wenn es alles schon fertig gibt?“, entgegnet sie und greift mit ihren Fingern nach einer Erdbeere. Sie hält sie sich einen Moment misstrauisch vor die Nase, dann steckt sie sie in den Mund und leckt sich gleichzeitig die Finger ab.
„Yep, nicht schlecht, aber Erdbeerjoghurt ist mir lieber.“
„In den Joghurts sind aber gar keine Erdbeeren drin. Das ist alles nur chemisch“, erwidere ich eingeschnappt, weil ich wirklich sehr guten Fruchtsalat machen kann. Ich bin der Meister der Fruchtsalate.
„Chemisch ist aber doch viel besser, wenn jemand eine Allergie hat oder so.“
Trotzdem isst sie den ganzen Obstsalat alleine auf und ich muss mir neuen machen. Macht aber nichts, ist ja genug da. Wahrscheinlich hat die Köchin vergessen, den Kühlschrank auszuräumen, weil mein Vater heute Morgen alle so hastig rausgescheucht hat, damit er hinter ihnen abschließen konnte. Ich sagte ja schon, dass er es nicht mag, wenn Fremde im Haus sind, und wenn er Mel jetzt sehen könnte, die nacheinander alle unsere elektrischen Küchengeräte an-und wieder ausschaltet, würde er bestimmt ausrasten.
Da fällt mir ein, dass ich dringend meine Eltern anrufen muss.
„Ich muss mal!“, sage ich und gehe zur Tür. Mel lässt gerade das Mahlwerk der Espressomaschine aufheulen und danach warten noch der Mixer, der Joghurtautomat, der Sandwichgrill und achtundfünfzig weitere Geräte auf sie. Damit ist sie die nächste halbe Stunde beschäftigt. Mindestens.
Ich gehe in Papas Arbeitszimmer, wo das Telefon steht. Na ja, eines von den fünfzehn, die im ganzen Haus verteilt sind. In der Küche ist auch eins, aber das kann ich ja schlecht nehmen. Neben dem Telefon liegt ein Diktiergerät. Darauf hat mein Vater nützliche Hintergrundgeräusche gespeichert. Im Angebot sind Ansagen von drei verschiedenen internationalen Flughäfen und diverse Bahnsteigdurchsagen, außerdem das sanfte Brummen einer schweren Limousine und die Geräuschkulisse einer asiatischen Großstadt inklusive hupender Autos und schreiender Chinesen. Das Band lässt mein Vater im Hintergrund laufen, wenn er von zu Hause aus mit Kunden telefoniert, damit die glauben, er sei immer unterwegs fürs Geschäft. Nur wenn er mit dem Anwalt meiner Mutter spricht, bleibt das Gerät aus, weil der
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