Norden ist, wo oben ist
einfädeln muss. Wenn die beiden aufeinandertreffen würden, käme es garantiert zu einer Schießerei. So wie 1881 in Tombstone, Texas, wo Wyatt Earp die Mc-Laury-Brüder zusammengeschossen hat. Oder wie Billy the Kid, der eigentlich Henry McCarthy hieß, 1878 in Lincoln, New Mexico, Sheriff Billy Brady aus einem Hinterhalt abgeknallt hat. So lief das damals nämlich. Die heldenhaften Storys – zwei Männer stehen sich um zwölf Uhr mittags auf der staubigen Hauptstraße gegenüber und wer zuerst zieht, gewinnt – hat sich Hollywood bloß ausgedacht. Die meisten Revolverhelden hatten noch nicht mal Holster, die trugen ihre Waffen im Hosenbund, und die Dinger waren so ungenau, dass man damit aus zwanzig Metern nicht mal eine Scheune treffen konnte. Ich kenn mich da aus. Schießereien im Wilden Westen sind so eine Art Hobby von mir.
Aber das nur nebenbei.
„Yep, ich glaub, ich bin alleine“, sagt das Mädchen und sieht sich demonstrativ nach allen Seiten um.
„Wie bitte?“, frage ich, weil ich durch meine Gedanken gerade etwas abgelenkt war.
„Du hast mich gefragt, ob ich allein bin. Yep, bin ich. Die haben mich vergessen, als ich auf dem Klo war. Aber das ist mir egal.“
„Deine Eltern?“
„Nein, der Bus mit den anderen. Kinderferienverschickung nach Kroatien. Ich hatte eh keine Lust.“ Sie sieht mir genau in die Augen. Das ist ungewöhnlich, weil das Fremde sonst nur selten tun. „Lach mal. Du guckst die ganze Zeit schon so ernst. Das ist nicht gesund.“
Ich habe keine Lust zu lachen. Muss es aber trotzdem, weil sie sich jetzt die Pommes mit den schwarzen Stellen rechts und links in die Nase steckt. Das ist natürlich furchtbar albern und wegen der Krebsgefahr bestimmt auch gefährlich, sieht aber schrecklich komisch aus.
„Na, siehst du, geht doch“, sagt das Mädchen zufrieden. „Ich hab das mal in einem Film gesehen. Da wurde einer mit Pommes gefoltert.“
„Der heißt Ein Fisch namens Wanda “, erkläre ich immer noch lachend, weil der Film wirklich witzig ist. Mein Vater hat den auf DVD . Er hat so ziemlich alle Filme, die es überhaupt gibt. In unserem Haus hat er ein richtiges kleines Kino mit einem Beamer und einer riesigen Leinwand eingerichtet.
„Blöder Name für einen Film!“, sagt das Mädchen. „Und für einen Fisch auch.“
Am Tisch neben uns sitzt ein Trucker. So ein ganz dünner Typ mit einer zerschlissenen Jeansjacke und einer Baseballkappe mit dem Aufdruck einer ausländischen Biermarke auf dem kahlen Kopf. Er starrt das Mädchen an, oder besser gesagt die Pommes, die ihr aus der Nase ragen.
„Was gucken Sie denn so?“, faucht das Mädchen. „Ich habe eine seltene Krankheit und kann Nahrung nur über die Nase zu mir nehmen. Kein Grund, mich so anzuglotzen. Das ist doch kein Zoo hier!“
Der Trucker guckt sofort weg und sieht stattdessen ertappt auf den Teller mit seiner Currywurst.
Das Mädchen grinst mich zufrieden an und reicht mir über den Tisch die Hand. „Ich bin übrigens Mel. Und was machen wir jetzt?“
„Keine Ahnung“, erwidere ich wenig einfallsreich.
„Ich auch nicht. Da haben wir jetzt schon zwei Sachen gemeinsam.“
„Welche denn?“, frage ich verwirrt.
„Wir sind beide allein und wir haben keinen Schimmer, was wir tun sollen.“
Da hat sie Recht!
„Boah, sind die krass drauf“, staunt Mel, als ich ihr alles erzählt habe. „Du solltest das selber entscheiden? Das ist ja der reinste Terror!“
Auch damit hat sie Recht. Es war nämlich so: Meine Eltern haben mir die Wahl gelassen, mit wem von den beiden ich in den Urlaub fliegen will. Weil sie so schrecklich tolerant sind und ich so furchtbar verantwortungsbewusst bin. Vorsorglich haben sie jeweils eine komplette Reise für zwei Personen gebucht. Mit meiner Mutter wäre es nach Indonesien gegangen, mein Vater hatte irgendetwas in Florida aufgetan.
Meine Eltern reden nur noch über ihre Anwälte miteinander, die schicken sich nicht einmal mehr eine SMS . Deswegen haben sie die Flüge von verschiedenen Flughäfen gebucht, damit sie sich nicht zufällig beim Einchecken begegnen.
Diese armselige Raststätte hier liegt genau zwischen den beiden Flughäfen, von denen die Reisen starten sollten. Mein Vater hat mich ins Restaurant gebracht, mir an der Theke die Pommes und eine Cola gekauft und dann auf die Uhr gezeigt.
Eine Stunde Bedenkzeit hatte ich. Während dieser Stunde saßen meine Eltern in ihren Wagen an entgegengesetzten Enden des Parkplatzes und warteten auf meine
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