Norden ist, wo oben ist
spinnst du?! Willst du mich einfach stehen lassen? Hier am Arsch der Welt?!“, faucht Mel mich an.
Damit liegt sie gleich doppelt richtig, denn erstens befindet sich unsere Villa wirklich am Ende der Welt, woanders wäre auch gar kein Platz für so ein Riesengrundstück, und zweitens hatte ich tatsächlich vor, sie stehen zu lassen.
„Es ist ja nur …“, antworte ich stockend, weil Mel ziemlich wütend aussieht, „… das ist nicht ganz ungefährlich, einfach irgendwo einzusteigen. Ich meine, ich hab Erfahrung, und eigentlich arbeite ich nie mit Anfängern. Ich will dich da nicht mit reinziehen. Darum dachte ich, wir trennen uns besser hier. Wenn du eine halbe Stunde läufst, kommst du zu einer Bushaltestelle.“
Mel sagt nichts. Braucht sie auch nicht. Ich kann ihr ansehen, was sie von meinem Vorschlag hält: noch weniger als gar nichts.
„Na gut, meinetwegen, gehen wir eben zusammen rein“, lenke ich ein, denn dieser Blick, mit dem sie mich ansieht, ist wirklich übel. „Aber beschwer dich nachher nicht, wenn irgendwas schiefläuft!“
Mel lächelt immer noch nicht, deswegen wende ich mich dem Tor zu und überlege, was als Nächstes zu tun ist.
Natürlich könnte ich jetzt den Schlüssel rausholen und aufschließen. Aber das wäre ziemlich uncool.
Deswegen schaue ich nach links und rechts, ob jemand kommt. Weit und breit ist niemand zu sehen und ich schmeiße erst mal meinen Rollkoffer mit Karacho über den Zaun. Das klappt aber nicht, weil ich nicht hoch genug geworfen habe. Der Koffer wird von einer der scharfen Eisenspitzen aufgespießt, die unerwünschte Besucher abschrecken sollen. Mist! Wahrscheinlich haben meine Klamotten jetzt alle ein Loch. Ganz sicher aber mein Shampoo. Aus dem Kofferleck tropft eine zähe grüne Sauce, die extrem nach Kiwi riecht.
Mel hält sich die Nase zu und lacht.
Ich ignoriere sie und klettere über den Zaun, als würde ich das immer so machen.
Dabei ist es das erste Mal und das rächt sich. Meine Hose bleibt an einer der geschliffenen Zacken hängen, die schon meinem Koffer zum Verhängnis geworden sind. Es macht Ratsch und das ist ziemlich peinlich. Vor allem, weil Mel sich vor lauter Lachen am Tor festhalten muss, das sofort nachgibt und nach innen aufschwingt. Es war nämlich gar nicht abgeschlossen!
Ich befreie den Koffer und werfe ihn nach unten auf den Weg. Dann klettere ich vorsichtig hinterher.
„Und du bist sicher, dass keiner zu Hause ist?“, fragt Mel, nachdem sie sich eine gefühlte halbe Stunde später von ihrem Lachanfall erholt hat.
„Ganz sicher!“, erwidere ich und gehe den Weg entlang, der zum Haus führt.
Rechts und links wachsen hohe Kastanien, die sind bestimmt schon hundert Jahre alt. Hinter den Bäumen erstreckt sich eine große Rasenfläche, auf der verstreut griechische Gottheiten stehen. Also keine echten, sondern nur so alte Denkmäler davon. Die meisten der Götter sind nackt – auch die Frauen – und ich hoffe, dass Mel das nicht auffällt.
Ich laufe rückwärts vor Mel her, damit sie das Loch in meiner Hose nicht sehen kann. Oder besser gesagt: damit sie durch das Loch meine Shorts nicht sehen kann. Da ist die komplette Simpson-Familie draufgedruckt und ich bin nicht sicher, ob Mel die Sendung genauso gut findet wie ich. Mein Koffer hinterlässt eine grüne Kiwi-Shampoo-Spur auf dem Kies und ich werde das Gefühl nicht los, dass der vorgetäuschte Einbruch vielleicht doch keine so gute Idee war.
Fünf Minuten später stehen wir vor der Tür unserer Villa. Aus der Nähe wirkt das Haus noch größer. Von außen erinnert es an eine dieser Südstaaten-Villen, die sich reiche Baumwollfarmer am Rande ihrer endlosen Plantagen von Sklaven haben bauen lassen. So üppige Prachtbauten mit zehn fetten Säulen vor der Tür und einer riesigen Veranda, auf der nie jemand sitzt, weil es zu viele Mücken gibt. Genauso sieht unser Haus aus, obwohl hier weit und breit keine Baumwollfelder sind und Sklaven – soweit ich weiß – auch nicht. Mücken aber gibt es, Unmengen von Mücken. Hinter unserem Garten liegt ein See, von dem unzählige kleine Flüsschen abgehen, die zu anderen Seen führen, und immer so weiter. Und wenn ich hier von Seen rede, dann meine ich keine mickrigen Dorfteiche, sondern Seen, die schon fast den Namen Binnenmeer verdienen und bei denen man nur mit Mühe irgendwo am Horizont das andere Ufer erkennen kann.
Die Fenster sind alle verrammelt, weil niemand zu Hause ist. Während wir im Urlaub sind, haben auch die
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