Nordseefluch: Kriminalroman
fiel mehrmals zu Boden, als er dem Auf und Ab der Dünen folgte, doch dann ging er plötzlich auf die Knie. Sein Winseln und Jammern drang zu mir. Leise schlich ich mich näher. Durch die spärlichen Halme schaute ich zu, wie er sich, schluchzend mit sich selbst redend, über etwas beugte. Als er sich erhob und einen nackten Mädchenkörper auf seine Arme nahm und das hübsche Gesicht küsste, zerriss eine Erkenntnis alle Fäden, die mich mit dem Leben verbanden. Meine Tochter war tot!
Es war ein Fall in eine Tiefe, der nicht enden wollte. Der Trunkenbold küsste meine Marion und trug sie davon! Ich war wie gelähmt. Ich konnte ihm keinen Einhalt gebieten. Steif vor Schreck und Schmerz musste ich zusehen, wie er sie zur Kutsche trug. Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihm nach. Er legte die geliebte Tochter auf einen Kutschensitz, setzte sich auf den Bock, lockerte die Bremsen, nahm die Zügel und preschte davon.
Meine Zähne klapperten vor Kälte, obwohl die Sonne noch warme Strahlen in die Dünen schickte. Ich kroch weinend dorthin, wo der Betrunkene meine Marion gefunden hatte. Jesus kann am Kreuz nicht mehr gelitten haben als ich. Vor mir, auf blassgrünen Halmen, die den Sand nur spärlich bedeckten, lagen ihre Kleider. Meine Tochter musste im Todeskampf ihr T-Shirt zerrissen haben. Mir wurde rot vor Augen. Außer Sinnen presste ich die Wäsche an mich!
Mir wurde übel und ich betete darum, dass ein Herzinfarkt mit schnellem Ausgang meinem Schmerz ein Ende bereiten würde. Erst nach einer Weile konnte ich den Platz verlassen. Ich begann nachzudenken. Der Mörder saß in den Dünen. Mit seiner Kutsche war der Trunkenbold mit meiner toten Tochter unterwegs. Er wird wiederkommen, folgerte ich logisch. Ich versteckte mich und wartete. Laut betete ich: Lieber Gott, lass mich ihn erwischen! Mein höchster Herr konnte meine Bitte nicht ausschlagen! Der Betrunkene brachte die Kutsche zurück. Er warf die Zügel von sich und schritt schwankend und heulend durch die Dünen dem Strand entgegen.
Wenigstens einer, der mit mir trauert, dachte ich und gab meine Hoffnung nicht auf, den Mörder zu fassen. Würde ich dem Trunkenbold folgen, konnte er mir entwischen. Als ein Hubschrauber über mein Versteck flog, hatte ich das Gefühl, er suche mich, um zu verhindern, was ich vorhatte. Dann sah ich ihn. Überrascht blickte er um sich und rannte dann, den Blick auf die Kutsche gerichtet, drauflos. Es gelang mir nicht, ihn anzuschreien und seinen Lauf aufzuhalten. Er erreichte die Kutsche und drosch davon. Es war mein Bedürfnis nach Rache und eine innere Stimme, die mir befahl, auszuharren und zu warten.
Der Himmel dunkelte sich ein. Das ferne Donnern der Wellen reizte meine Gefühle. Mich irritierte ein kleiner Mann, der mit buntem Hütchen um das Terrain schlich, als suche er mich oder sonst etwas Aufregendes. Er war so klein, dass ich mich fragte, ob er nicht auch in der Kutsche gesessen hatte, in der meine Tochter hierher gelockt worden war.
Doch meine Hände hielt ich bereit für den Kutscher! Auch den Zwerg hätte ich umgebracht, wenn er sich meinem Versteck genähert hätte. Allein wollte ich sein, wenn sich der verruchte Mörder seinem Tatort nähern würde, um verwirrt nach dem Verbleib meiner toten Tochter zu forschen.
Nach einer Ewigkeit drang das Klappern der Pferdehufe in mein Versteck.
Ich betete. Dann beobachtete ich ihn. Er verließ seine Kutsche und näherte sich meinem Versteck. Seine kalten Augen richtete er suchend auf die Dünen.
Ich hatte nur ein Ziel, als ich lospreschte! Ich dankte Gott für die Kraft, die er in meine Arme legte, als ich dem Mörder die Luft abdrückte und dorthin zwang, wohin er meine kleine Tochter geschickt hatte. Die Kleider meines Kindes nahm ich mit.«
Mir gelang es nicht, den Brief zu Ende zu lesen. Der Schock saß zu tief, da Habbo Stinga nicht irgendein Verbrecher war, sondern mein langjähriger Kollege.
Der Kommissar füllte die Gläser.
»Armes Schwein«, sagte Heiko Ekinger impulsiv. Er griff nach einer Zigarette.
»Das erklärt alles«, sagte ich.
Kommissar Pietsch zog die Stirn kraus. Er griff zum Glas und schwieg. Auch ich schluckte das süffige Bier, denn meine Kehle war trocken.
Im Kamin tanzten die Flammen, die wie ein Fegefeuer auf mich wirkten, das für meinen Kollegen Stinga bereits in den Dünenhügeln von Juist, umgeben von Strandhafer und Sanddornsträuchern, abgebrannt war.
Nun sitzt Manfred in den Flammen eines Fegefeuers, dachte ich.
Ich nahm mir
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