Nordseefluch: Kriminalroman
denn das Schuljahresende näherte sich mit großen Schritten.
Einen besonders schönen Sonnentag nutzten wir und suchten mit den Kindern in Nessmersiel den Strand auf. Wir lagen stundenlang im Sand und badeten mit dem Blick auf das blaue Meer und auf die Insel Baltrum. Als wir so rundum zufrieden nach Hause kamen, klingelte das Telefon.
Es war Oberschwester Ursula, die mit mir schimpfte.
»Herr Färber, ich finde es unverantwortlich, dass Sie sich als Manfreds ehemaliger Lehrer der Meinung der Kripo anschließen und nichts unternehmen, ihm zu helfen. Der Junge ist am Ende. Sie tragen mit Verantwortung, wenn er seinen Lebenswillen aufgibt.«
Ich regte mich auf. »Nun hören Sie einmal gut zu, liebe Schwester Ursula …«, begann ich.
»Ich bin nicht Ihre liebe Schwester!«, schnarrte sie und ich sah im Geiste ihr verzerrtes, wütendes Gesicht vor mir.
»Schwester, ich fungiere nur als kleiner pädagogischer Berater der Kripo, weil ich zufällig Manfreds Lehrer war!«, sagte ich. »Rufen Sie die Kripo oder den Staatsanwalt an.« Wütend haute ich den Hörer auf die Gabel.
»Jupp, musste das sein?«, fragte meine Frau, als sie die nassen Badesachen an mir vorbeitrug, um sie im Garten auf die Leine zu hängen.
»Dieser verdammte Bengel, er hat mich schon genug Zeit und Nerven gekostet«, schimpfte ich.
Ich nahm den Telefonhörer in die Hand und schaute auf die Uhr. Pietsch musste bereits Feierabend haben. Entschlossen wählte ich seine Privatnummer.
Der Kommissar meldete sich.
»Hier Färber, Herr Pietsch. Oberschwester Ursula hat mir vor Sekunden eine Standpauke gehalten. Wie sieht es aus?«, fragte ich.
»Durchwachsen, Herr Färber. Ich war in Korschenbroich und habe dort recherchiert«, antwortete er.
»Und Manfred?«, fragte ich.
»Vielleicht können einige Fakten Manfred Kuhnert entlasten«, sagte der Kommissar. »Wenn Sie mehr erfahren wollen, dann schlage ich vor, dass Sie mich heute Abend besuchen.«
»Einverstanden, Herr Kommissar. Ist Ihnen neunzehn Uhr recht?«, fragte ich. »Ja. Bis dann«, verabschiedete sich der Kommissar.
Am Abend saßen wir im Wohnzimmer des Kommissars vor dem Kamin. Heiko Ekinger stocherte in der Glut herum und brachte sie zum Entfachen. Wir tranken Bier, schauten in die tanzenden Flammen.
Der Kommissar schob die Kassette in den Rekorder. Wir hörten der Stimme Manfreds zu, die uns entgegenschallte. Als Pietsch das Gerät abschaltete, sagte Ekinger: »Seine Schilderung des vorbeischwebenden Joggers, der erwähnte Riese und der Zwerg, die bereitstehende Kutsche, in der er mit dem toten Mädchen als Prinz fuhr, lassen keinen Zweifel zu.«
»Manfred hat die Kleine getötet. Er war betrunken und hat dennoch in seinem Rausch alle Beteiligten gesehen«, sagte der Kommissar und fuhr fort: »Dabei ist es seltsam, dass sie alle aufgetaucht waren. Was nur für einen kurzen Zeitraum Wirklichkeit gewesen sein kann.«
»Wie ist das nur zu erklären?«, fragte ich.
»Diese geschilderte Traumszene hat nur Bezug auf das Geschehen kurz nach dem Mord an Marion«, meinte Ekinger. »Der Kutscher, der hier als Jogger erscheint, lebte noch. Er lief zu Isa von Schwertstein. Alle Akteure befinden sich am Tatort.«
»Mein Kollege war der Riese und das Kerlchen mit dem Pepitahütchen hielt sich ebenfalls am Tatort auf«, warf ich ein.
»Und dieser Emanuel Sebastian Köth hatte Marion in die Dünen begleitet und sie, so seine Aussage, zu Manfred gehen sehen. Und dennoch war er in der Nähe«, sagte Pietsch nachdenklich.
»Beobachtete er etwa als Zeuge, wie sich Manfred an der jungen Marion vergehen wollte?«, fragte Ekinger.
»Drehen wir den Spieß um. Störte der betrunkene Manfred den alten Köth? War dieser dabei, Marion zu belästigen, und tötete sie aus Angst vor einer Entdeckung? Köth ist ein vorbestrafter Sexualstraftäter!«, sagte der Kommissar.
Mitten in unsere Überlegung hinein klingelte das Telefon. Kommissar Pietsch eilte zum Flur.
»Herr Färber!«, rief er. Ich ging zu ihm. Er drückte mir den Hörer in die Hand.
Der Hausmeister meiner Schule war am Apparat.
»Jupp, von deinem Sohn erfuhr ich, dass du dich beim Kommissar aufhältst«, sagte er und bat mich, zur Schule zu kommen. Seine Gründe überzeugten mich. Ich blickte auf meine Armbanduhr.
»Gut, ich komme«, sagte ich und legte den Hörer auf.
Pietsch schaute mich neugierig an.
»Dienstlich«, sagte ich, »der Hausmeister muss Stingas Fach im Lehrerzimmer ausmisten. Dabei hätte er gern einen Zeugen.«
Heiko
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