Notaufnahme
Joan den Jeep in Richtung Gay Head, der Westspitze, wo Hughie und Jean Taylor das schönste Hotel der Insel betrieben. Das neoviktorianische Haus hatte nur sieben Gästezimmer, war auf einer sanften Anhöhe oberhalb des Vineyard Sound gelegen und bot einen atemberaubenden Blick auf den wohl schönsten Sonnenuntergang der Welt.
Zu diesem Spektakel kamen wir zwar zu spät, doch Barbara, die Küchenchefin, würde uns mit ganz besonderen Köstlichkeiten entschädigen.
Jeanie begrüßte uns herzlich und schlug uns vor, mit einem Gläschen Wein auf der Veranda zu beginnen, bevor es zu Tisch ging. Die Bar befand sich auf der großzügigen, überdachten Terrasse, die einen herrlichen Blick aufs Meer bot.
Als ich die Veranda betrat, erstarrte ich zur Salzsäule. Hughie saß am Klavier, und ein ganzer Chor, bestehend aus vertrauten Gesichtern, sang »Happy Birthday«. Mike stand hinter der Bar und füllte mit Hollis, dem Barkeeper, die Champagnerkelche. Mercer war mit Francine da; neben ihnen entdeckte ich Sarah und Jim, Charles und Maureen, Rod Squires sowie Renee und David. Joanie und Nina hatten das ganze Hotel gemietet – die Party konnte losgehen.
Strahlend machte ich die Runde, ließ mich umarmen und küssen und erfuhr, wie die ganze Sache generalstabsmäßig geplant und vor mir geheimgehalten worden war.
»Mach deine Geschenke auf!« rief Mike und deutete auf die zahlreichen Päckchen, die sich auf der Bar stapelten.
»Ihr seid ein paar Wochen zu früh dran«, tadelte ich meine Freunde. »Ich will die Vierunddreißig keinen Augenblick eher als nötig hinter mir lassen.«
»Verständlich, aber Nina sagte, du wolltest deinen Fünfunddreißigsten unten bei deinen Eltern feiern. Also blieb uns nichts anderes übrig, als deinen Geburtstag vorzuverlegen.«
Ich nahm den Champagnerkelch, den man mir reichte, und bahnte mir den Weg durch die Gäste. An der Bar machte mich Joan auf den Strauß gelber Rosen aufmerksam, an dem eine Karte hing; sie war von Drew. Ich biss mir auf die Lippe und nahm mir fest vor, ihn am nächsten Tag anzurufen, um mich mit ihm zu verabreden und offen über die vergangenen zwei Wochen zu sprechen.
Während ich Sarah und Francine für die gelungene Überraschung dankte, hörte ich mit einem Ohr, dass Mike und Mercer sich über den Mord an Gemma Dogen unterhielten.
»Erinnerst du dich, als wir darüber gesprochen haben, ob Geld oder Liebe das häufigste Motiv für einen Mord ist? Sieht aus, als hätte ich wieder mal Recht gehabt. Warum war Coleman Harper wohl nicht damit zufrieden, ein ganz normaler Arzt zu sein? Warum wollte er mehr?«
»Und am schlimmsten sind die, die uns nach dem Mord zunächst nicht weitergeholfen haben«, erwiderte Mercer. »Jetzt plötzlich erzählen sie uns, wie sehr Harper Dogen gehasst und welche Wut er mit sich herumgeschleppt hat, seitdem er vor fast zehn Jahren das erste Mal mit ihr zu tun hatte.«
»Du hättest sehen sollen, was Zotos und Losenti bei der Durchsuchung seiner Wohnung gefunden haben.«
Ich spitzte meine Ohren, denn seitdem ich in dem Fall als Zeugin fungierte, hatte Tom Kendris mir gegenüber striktes Stillschweigen hinsichtlich aller anderen Indizien gewährt. Mike fuhr fort. »Alle Arten von Maskierungen – Perücken, Haarteile, falsche Bärte, Schminke. Außerdem haben sie schriftliche Mitteilungen von Robert Spector gefunden, in denen er Harper vor ein paar Monaten versicherte, dass er alles Mögliche unternommen habe, um ihn woanders unterzubringen, aber dass Dogen ihn ›rund um den Globus angeschwärzt‹ habe. Harper musste also handeln, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Ich persönlich glaube, dass er sie in der Nacht allein antreffen wollte, um ein letztes Mal mit ihr über ihre ablehnende Haltung zu sprechen. Er hatte Spectors Unterstützung, und sie war der einzige Mensch, der seiner Zulassung im Wege stand. Wenn sie ohnehin zurück nach England ging, hätte es ihr doch egal sein können – das wollte Harper ihr wohl klarmachen. Doch als sie sich weiterhin stur stellte, stach er auf sie ein. Er hatte das Messer mitgebracht – die Rache war geplant gewesen.«
Ich konnte nicht mehr länger an mich halten und beugte mich über den Bartresen. Mike und Mercer schienen damit gerechnet zu haben, dass ich zuhörte.
»Weisst du, wann die Sache angefangen hat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Schon Gemma Dogens Vorgänger schien Zweifel an Harpers Fähigkeiten gehegt zu haben. Das ist jetzt ein Jahrzehnt her. Dieser gewisse Dr. Randall
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