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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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bevor er einen Stand fand, die Schuhe teils frei schwebend, nur in der Mitte der Sohle von dem schmalen Stahl getragen. Unsicher ruderte er noch mit den Armen, um die Balance zu halten. Bedenklich schwankend drehte er sich auf seinem begrenzten Halt in meine Richtung. Doch bald beruhigte sich sein Körper.
    »Jens! Was machst du?!«
    Ich schrie ihn an! Die Brücke führte mehr als haushoch über die Straßen hinweg. Mir selbst blieb die Luft zum Atmen weg vor Angst, doch in seinen Augen sah ich keine Furcht, eher so etwas, wie – ja, Tatendrang. Es klingt unwirklich, aber genauso kam es mir vor. Erwartungsvoll begeistert und doch aufgeregt ängstlich blickte er mich an, als wollte er sich gleich in nichts weiter, als in eine irre Achterbahnfahrt stürzen.
    Im nächsten Moment aber biss er sich auf die Unterlippe, sog sie ein, während er mich noch immer ansah. Dabei verlor sich seine Begeisterung in einem Ausdruck, der direkt in mein Herz griff. Ich spüre es jetzt noch. Sein Gesicht vor mir – in jedem Detail seiner Hautfältchen, seiner Lippen und seiner Augen, lagen die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, seine verlorenen Träume und alle Anklagen gegen mich. Ein Gesicht, das ich nie mehr vergessen werde.
    Jens schwankte nicht mehr auf dem Geländer. Er stand still, bewegungslos im vollen Gleichgewicht.
    Nun sah ich nur noch seine Augen.
    Traurige Augen.
    »Geh hin! Du bist es mir schuldig«, sagte er ruhig und leise.
    Er wandte sich schwankend um und blickte noch einmal auf die Autobahn unter ihm, vielleicht drei Sekunden lang, während ich tatenlos hinter ihm stand.
    Dann sprang er.
    Einfach so.
    Ohne etwas zu erklären. Ohne sich zu verabschieden. Er sprang einfach so aus unserem Leben.
    Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, als ich ihn dort unten liegen sah, mitten auf der A40, zwischen den Autos, die ineinander gefahren waren. Ob ich ihm bestürzt und wie gelähmt hinterher blickte, oder vielleicht sogar froh darüber war, dass er mich endgültig verlassen hatte – dass sein Sturz mich davor bewahrte, ihn eines Tages eigenhändig hinunterzustoßen – ich weiß es wirklich nicht. Ein Fahrzeug hatte nicht mehr bremsen können und ihn nach seinem Aufschlag auch noch überfahren. Sein Körper zuckte und krümmte sich unter dem Wagen. Ich sah es von der Brücke aus und konnte nichts dagegen unternehmen. Es war unbeschreiblich.
    Einige Leute sahen zu mir nach oben und starrten mich an. Dieses Angaffen – als wüssten sie von den heimlichen Mordgedanken in meinem Inneren. Sofort erzeugten meine Finger diesen Schweiß, der vergeblich versuchte, sich wie eine Schutzglasur gegen die Ächtung menschlicher Blicke über meine Haut zu legen.
    Die Rettungswagen kam fast gleichzeitig mit der Polizei. Sie nahmen Jens auf einer Trage mit.
    Unten im Menschengewirr sah ich die Silhouette eines Mannes, der mir bekannt vorkam. Er blickte zu mir hoch und ich hätte schwören können, dass es Marc gewesen war. Ich war mir nicht ganz sicher. Es wäre ein unglaublicher Zufall gewesen. Doch dieses Gesicht in der Ferne, sein langer Blick zu mir nach oben, schien mir, als erkannte die Person da unten auch mich.
    Die Polizisten fragten nicht, warum ich nicht nach unten gelaufen war. Sie nahmen meine Aussage verständnisvoll entgegen. Anscheinend fanden sie es auch nicht verwunderlich, dass ich zitterte und mich immer wieder verhaspelte. Ich denke nicht, dass sie mir misstrauten. Ich hatte ihn nicht gestoßen, nicht einmal mit dem Finger berührt!
    Als ich später wieder im Hausflur stand, dort wo mein Ausflug begonnen hatte, dachte ich, wie sinnvoll es doch ist, die Ereignisse des kommenden Tages nicht vorhersehen zu können. Am Morgen fingert man ohne jede Ahnung unbekümmert im Briefkasten herum, beginnt unschuldig und naiv seinen Weg in den Tag und ein paar Stunden später schon fühlt man sich schuldig und schlecht. Wehe dem, der wüsste, welche Unglücke ihn erwarten. Er würde sich weigern, morgens aufzustehen und sein Leben hassen.
    Ich warf mich auf mein Bett. Jens war noch nicht tot, aber doch so gut wie. So etwas konnte er nicht überleben. Niemand überlebt so etwas! Wollte ich, dass er zurückkommt?
    Wie oft hatten Jens und ich darüber gesponnen, es gemeinsam zu tun. Einfach springen und diese verlogene, uns quälende Welt loslassen. Gemeinsam in der Badewanne unsere Arterien aufschneiden, unser pulsierendes Blut der Leichtigkeit des warmen Wassers übergeben, und dann in unserem erträumten Paradies aufwachen. Ein

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