Der verschwundene Weihnachtsengel: Ein Weihnachtskrimi in 24 Kapiteln
E igentlich könnte heute ein ganz normaler erster Dezember sein. Wenn da nicht Laura, Jakobs jüngere Schwester wäre. Bereits seit einigen Tagen benimmt sie sich merkwürdig. Den halben Vormittag läuft sie unruhig hin und her. Dann wieder sitzt sie still wie eine lauernde Katze am Küchenfenster.
»Falls du auf den Weihnachtsmann wartest: Der kommt erst in drei Wochen!«, sagt Jakob, als er Laura mal wieder mit der Nase am Fenster entdeckt.
»Sehr witzig«, erwidert Laura, während sie unbewegt auf die Straße starrt. In ihrem Blick liegt bange Erwartung.
Jakob will an seiner Schwester vorbei aus dem Fenster spähen. Doch in diesem Moment springt Laura auf und stößt Jakob hektisch zur Seite. »Platz da! Lass mich durch! Er ist da!«, ruft sie aufgeregt. Dann stürzt sie aus dem Haus. Was ist nur mit Laura los?
Kopfschüttelnd geht Jakob ins Wohnzimmer. Hier sitzen Mama und Papa gemeinsam am Tisch und schreiben Weihnachtskarten, wie jedes Jahr Anfang Dezember. Doch womöglich müssen sie damit bald früher anfangen, wenn sie auch wirklich fertig werden wollen. Denn nicht nur jede Urlaubsbekanntschaft und alle noch so entfernt verwandten Tanten werden zum Jahresende mit lieben Wünschen und Grüßen bedacht. Seit die Familie vor einem Jahr aus der großen Stadt in das lauschige Rhodenberg gezogen ist und Jakob hier die sechste, Laura die vierte Klasse besucht, schreiben Mama und Papa auch an alle ehemaligen Nachbarn und Arbeitskollegen. Ja, sie schreiben sogar an die freundliche Frau vom Kiosk, in dem sie immer die Zeitung gekauft haben.
»Wisst ihr, was mit Laura ist?«, erkundigt sich Jakob.
Mama sieht für einen Augenblick von ihren Karten auf. »Keine Sorge. Es ist alles in Ordnung mit ihr«, winkt sie ab. »Ich glaube, sie wartet nur auf eine Nachricht.«
Im nächsten Moment fliegt krachend die Tür auf. Alle zucken vor Schreck zusammen. Laura stürzt, wild mit den Armen fuchtelnd, ins Zimmer und jubiliert: »Ich bin es!«
»Ja, ich weiß. Du bist es«, erwidert Jakob verblüfft und wendet sich an seine Mutter. »Und du meinst wirklich, dass alles in Ordnung ist?«
»Nein, du verstehst nicht, Jakob!« Laura hüpft vor Freude auf der Stelle. Ihre Stimme hat einen schrillen Klang. » Ich bin es !«
Zu Jakobs Verblüffung springen nun auch Mama und Papa auf und umarmen Laura begeistert. »Hurra, wie schön!«, ruft Mama, während Papa Laura durch die Luft wirbelt. »Ich freue mich so für dich!«
Als seine Schwester wieder festen Boden unter den Füßen hat, drückt sie Jakob einen Brief in die Hand. »Hier!«, jauchzt sie. Der Brief kommt vom Bürgermeister.
»Laura Lenkemeyer wurde für den diesjährigen Rhodenberger Traditionsadvent als Weihnachtsengel ausgewählt«, liest Jakob die ersten Zeilen vor. Dann umarmt auch er seine Schwester. »Herzlichen Glückwunsch! Meine Schwester als Rhodenberger Weihnachtsengel. Das ist ja wirklich etwas ganz Besonderes!«
Und damit hat Jakob in jeder Hinsicht recht. Denn zum Weihnachtsengel gewählt zu werden, ist in dem kleinen Städtchen Rhodenberg eine außergewöhnliche Ehre, um die sich praktisch alle Mädchen in Lauras Alter reißen. Der Weihnachtsengel führt am vierten Advent Kinder und Mütter des Ortes durch die Altstadtgassen zur Kirche, wo die Väter auf sie warten. In der Kirche sagt der Engel ein Gedicht auf, wünscht allen ein schönes Weihnachtsfest und entzündet den großen Lichterkranz. Von jeher kommen zum Traditionsadvent Touristen aus aller Welt. Seit einigen Jahren wird das Spektakel sogar vom Fernsehen übertragen.
»Warum hast du mir nichts davon gesagt, dass du dich beworben hast?«, fragt Jakob ein wenig gekränkt.
»Ich dachte, du lachst mich aus«, erklärt Laura. »Vor allem wenn nichts daraus geworden wäre.«
»Aber das war doch klar, dass sie dich nehmen! Was denkst denn du?« Jakob ist empört.
»Nein, nein!«, nimmt Mama Laura in Schutz. »Der Wettbewerb ist wirklich streng. Also, ich hätte da nicht mitgemacht! Laura musste dreimal ins Stadttheater zum Vorsprechen.«
»Und die Jury bestand aus dem Theaterdirektor, dem Bürgermeister und unserer Rektorin!«, fügt Laura hinzu.
»Aber im Gedichteaufsagen bist du doch unschlagbar«, widerspricht Jakob. Denn er kennt niemanden, der am Heiligen Abend schöner Gedichte aufsagen kann als seine kleine Schwester.
Laura wird ein bisschen rot. »Ach was!«, erklärt sie entschieden. »Bei solchen Wettbewerben geht es außerdem nicht nur um Talent. Meistens werden nur ganz
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