Notruf 112
Frau Göksel, die einen wahrlich furchterregenden Wortschatz hat. Sie schreit und schimpft ohne Vorwarnung die unflätigsten Worte in den Hörer – so laut, dass ich mir jedes Mal das Kopfgeschirr herunterreiße, weil ich um die Gesundheit meiner Ohren fürchten muss. In manchen Nächten ruft sie 30-Mal hintereinander den Notruf 112 an. Mittlerweile wissen wir aber, wie sie zu stoppen ist. Wir drehen den Spieß einfach um, rufen sie ein paarmal zurück und erkundigen uns höflich nach ihrem Befinden – so lange, bis ihr das Spielchen keinen Spaß mehr macht und sie ihre Ruhe haben will. Diese kleine List wirkt bei ihr eigentlich immer.
Sehr viel angenehmer im Umgang ist die alte Frau Grothaus, die sich von (nachweislich nicht vorhandenen) Stromflüssen in ihrer Wohnung verfolgt fühlt. Aus den Wänden, der Decke, dem Handtuchhalter, dem Bett – von überall her fühlt sie sich bedroht. Von uns erwartet sie, dass wir den Strom in ihrer Wohnung herunterdrehen. Den kleinen Gefallen tue ich ihr immer gern. Wir haben dafür bereits ein Ritual entwickelt. Ich tippe also mit den Fingern irgendwelche Morsezeichen an meine Kaffeetasse und kündige an: »Ich drehe dann jetzt den Strom mal runter, Frau Grothaus. Spüren Sie es schon?« Sie beruhigt sich jedes Mal sofort und bedankt sich immer höflich. In letzter Zeit hat sie nicht mehr angerufen. Ich denke, sie ist wohl gerade mal wieder in der Psychiatrie.
Dort wäre sicher auch der alte Herr Millmann besser aufgehoben. Er ist sehr einsam und täuscht seit Jahren mit großem Geschick immer wieder Ohnmachtsanfälle vor. Nahezu jeder Notarzt in der Stadt kennt ihn schon.
Ein geradezu begnadeter Simulant war auch der legendäre Münchner Obdachlose Egon, der selbst im Vollrausch täuschend echt epileptische Anfälle hinlegen konnte. Er konnte zucken und schäumen und sogar bläulich anlaufen, dass selbst die Leute vom Fach zunächst nicht den geringsten Zweifel an einem ernsthaften Notfall hatten. Egon hat in seiner jahrzehntelangen Straßenkarriere locker zwei Generationen von Notärzten verschlissen – immer dann, wenn ihm gerade langweilig, kalt oder sonst wie nach menschlicher Zuwendung zumute war. Eines Tages ist er wieder mal umgekippt, ganz still liegen geblieben und tatsächlich nicht mehr aufgestanden. Es war ein massiver Herzinfarkt und Egon war nicht mehr zu retten. Möge er in Frieden ruhen.
Nahezu alle Polizisten, Bereitschaftsärzte, Rettungsassistenten, Notärzte und Leitstellendisponenten in der Stadt kennen auch den Rentner Horst Dientzler (71), dem es zuweilen urplötzlich so schlecht geht, dass man das Schlimmste befürchten muss. Seine Notfallpalette reicht von Kreislaufzusammenbrüchen bis hin zum akuten Herzinfarkt. Doch immer wenn der Arzt eintrifft, weigert er sich strikt, sich in die Klinik bringen zu lassen. Was zur Folge hat, dass er – wie all die anderen Stammkunden – nun auch den »Grüne-Monster-Button« gewonnen hat. Dabei handelt es sich um einen dicken grünen Punkt mit Gespenstergesicht, der auf unserem Display hinter den Adressen unserer Stammkunden auftaucht. Selbstverständlich werden auch diese Anrufe immer angenommen. Alle Disponenten wissen aber, dass die Anrufe mit dem Grüne-Monster-Button mit Vorsicht zu behandeln sind.
Es ist das Drama dieser Menschen, dass wir ihnen schon lange keinen Retter und erst recht keinen Notarzt mehr schicken können. Jedem Einzelnen von ihnen haben wir in der Vergangenheit zehn-, 20- und 30-mal die Retter oder den Ärztlichen Bereitschaftsdienst geschickt. Kein einziges Mal war es ein Notfall, es fehlte ihnen nie etwas, das diesen Einsatz gerechtfertigt hätte. Sollte bei diesen Menschen tatsächlich einmal ein echter Notfall vorliegen, werden wir das wahrscheinlich nicht mehr erkennen.
Frau Heintz
Manchmal kommen Notrufe von Orten, an denen die Hilfe eigentlich ganz nah ist. Allerdings nicht für desorientierte Menschen, die nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht. Was gar nicht so selten vorkommt – zum Beispiel in Altenheimen oder auch nach Operationen. Wie dieser Fall einer älteren Dame belegt, die sich mitten in der Nacht aus einer großen städtischen Klinik meldet.
»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«
»Ja, hier ist Heintz. Schicken Sie mir bitte einen Notarzt! Mein Hals schwillt zu. Ich ersticke!«
»Wo sind Sie denn?«
»Links von … – ach Moment, ich lieg’ ja im Krankenhaus momentan. Da hilft mir kein Arzt, da ist keiner da.«
Ich sehe mir die Telefonnummer
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