NOVA Science Fiction Magazin 20
Schrei aus, als ich ihr die zweite, größere Injektion
in die Karotis steche, den Inhalt in ihren Blutstrom presse und dabei die Hand
auf ihren Mund drücke.
Der
Effekt setzt ein. Keine gute Idee, sie in diesem Augenblick festzuhalten.
Justine verkrampft, als sich sämtliche Muskeln ihres Körpers gleichzeitig
zusammenziehen. Ihre Hände krallen sich um den Toilettensitz, verbiegen ihn,
der Kunststoff bricht an zwei Stellen. Sie verliert den Halt und rutscht in die
Kluft zwischen Schüssel und Wand, wird geschüttelt von einem epileptischen
Anfall. Ihr Schädel schlägt gegen die Wand. Ich ziehe mein Jackett aus, rolle
es zusammen und lege es um ihren Kopf, polstere ihn so gegen Wand, Schüssel,
und Boden, gegen die ihr von Konvulsionen geschüttelter Körper ihn wieder und
wieder wirft. In ihr tobt ein Kampf. Eine Schlacht, die Justine nicht überleben
wird, obwohl sich ihr Gehirn mit allen Mitteln dagegen verteidigt. Ihr Tod dauert
minutenlang und er ist schmerzhaft. Und das ist noch eine Untertreibung.
Schließlich
lässt die Intensität der Krämpfe nach, verebbt zu leichten Zuckungen.
Es
wird bald vorbei sein. Und dann reißt sie Augen auf, die nun funktionslos
geworden sind, weil ihr Gehirn sowieso mit diesem ungeheueren Feuerwerk von
Bildern, Geräuschen, Stimme und Explosionen überladen wird. Von innen. Und ich
kann zusehen, wie es geschieht. Wie die Paralyten auf ihrem Kortex nach und
nach sterben, wie die Woge gleißender Erkenntnis über sie hereinbricht und sie
vor Schmerz aufschreit.
Dann
ist es vorbei.
Ihre
offenen Augen bleiben auf mich gerichtet, während ihr Körper erschlafft, ihr
Blick bricht.
„Justine
ist tot, Kathlyn“, stelle ich leise fest.
Ich
mache mich daran, meine Werkzeuge wieder einzusammeln. Nicht ohne sie vorher
mit einem Spray zu desinfizieren. Ich werde sie später im Hotel noch einer
gründlichen Reinigung unterziehen müssen. Vielleicht nachdem ich etwas gegessen
habe. Auf jeden Fall, nachdem ich einige Stunden geschlafen habe. Es war nicht
einfach, diesmal eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Ich bin seit mehr als 36
Stunden wach
Ich
wähle die Nummer, die mir der Klient gegeben hat. Jemand meldet sich. „Es ist
soweit“, erkläre ich. „Ich schicke Ihnen meine exakte Position“. Nach einem
Knopfdruck übermittelt das Smartphone meinen Standort an den Klienten.
Vermutlich wird er herkommen.
„Warum
hast du das getan?“ Ihre Stimme ist nur ein Flüstern.
Justine
ist tot.
Kathlyn
ist erwacht.
Ihr
Blick ist auf mich gerichtet.
„Jemand
will, dass Sie sich erinnern.“ Ich schließe den Koffer.
Kathlyn
hat sich dafür entschieden zu vergessen, aus ihrem Gedächtnis zu tilgen, was
sie quält und stattdessen ein neues Leben anzufangen. Sie hat das große
Komplettpaket bestellt. Neues Gesicht, neue Identität, neuer Job, neues Zuhause
und ein großes helles Nichts, wo mal ein dunkles Tal voller alter Dämonen lag.
Sie hat ihr Trauma löschen lassen. Aber auch jeden Menschen, der ihr einmal
etwas bedeutet hat.
Und
genau das können meine Kunden nicht akzeptieren. Sie wollen, dass man sich an
sie erinnert. Und sie heuern mich an. Um nichts anderes geht es. Meine Klienten
wollen, dass sich Menschen wie Kathlyn wieder erinnern. Sich erinnern an
einen Mann, eine Frau, einen Sohn, eine Tochter, oder an einen Geliebten oder
auch nur an die Schuld, die sie verdrängen und dann endgültig ausradieren
wollten.
Ich
bringe die Erinnerung zurück, rekonstruiere sie, erwecke ihre Vergangenheit
wieder zum Leben und mache die teure Löschprozedur rückgängig.
Sie
aufzuspüren ist dabei das Schwierigste. Vor allem, wenn sie das Land verlassen.
Und natürlich kann ich nicht einfach ein Bild herumzeigen und danach fragen, ob
sie schon mal jemand gesehen hat. Sie haben ein neues Gesicht, erinnern sich
nicht mal selbst daran, wie sie früher ausgehen haben. Am besten lassen sie
sich über medizinische Datenbanken identifizieren. Auch mit neuen Wangen, Nase
und Lippen bleibt das Gebiss dasselbe, verschwinden weder Allergien noch
orthopädische Probleme oder seltene Stoffwechselstörungen. Mit diesen Indizien
kann ich ihren neuen Aufenthaltsort ermitteln. Um sicherzugehen, mache ich noch
einen DNA Test, bevor ich die Rekonstruktion durchführe.
Die
Nanobots in der Injektion haben die Paralyten ausgeschaltet. Nanometergroße
Maschinen, die unerwünschte Erinnerungen auf dem Kortex blockieren. Der Patient
muss beim Zielen helfen, um nach der Prozedur endgültig zu
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