Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:
hier habe ich nicht gesehen. Holen Sie ihn jetzt aus dem Wasser.«
Dann tätschelte sie ihm freundschaftlich den Arm, und Sjöberg löste seinen Griff um Sören Andersson, dessen Kopf unter Prusten und Japsen aus dem Wasser herausschnellte. Sjöberg warf ihm ein Handtuch zu und befahl ihm, aus der Badewanne zu steigen. Barbro verließ das Badezimmer und setzte sich neben Hamad auf das Bett, hob mit seiner Hilfe das Mädchen auf ihren eigenen Schoß herüber und wiederholte mit ruhiger und fester Stimme immer und immer wieder dieselben Worte:
»Kleine Hanna, jetzt ist Barbro hier, und alles wird wieder gut …«
Geduldig machte sie weiter, bis sich das Mädchen beruhigte und schließlich erschöpft mit dem Kopf an ihrer Schulter einschlief.
Auf der Straße heulten Sirenen.
*
Es war fast zwei Uhr, als Sjöberg an ihrer Tür klingelte. Sie lächelte ihn an, als sie öffnete, aber er lächelte nicht zurück. Er schaute sie mit rot geränderten Augen an, ohne ein Wort zu sagen. Er war vollkommen erschöpft und die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Er umarmte sie wortlos und bohrte seinen Kopf in ihr weiches, rotbraunes Haar. So blieben sie lange stehen, bis sie flüsterte, dass sie sich auch setzen könnten. Er ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, und sie setzte sich neben ihn, nahm seine Hand und legte sie auf ihr Knie.
»Du darfst erzählen, wenn du möchtest.«
Und er erzählte. Die Worte flogen aus ihm heraus wie Funken von einer Wunderkerze. Sie leuchteten funkelnd, aber kurz, erloschen, verschwanden und wurden durch neue Wörter ersetzt. Sie ließ ihn erzählen und unterbrach ihn nicht, stellte keine störenden, neugierigen Fragen. Sie hörte seiner Geschichte über Menschen in Gefangenschaft zu. Einer Frau in einer Kiste und einem Mädchen auf einer öffentlichen Toilette, über erwachsene Männer an unsichtbaren Ketten und ein Kind in einer Badewanne, über eine Frau, die in ihrem eigenen Körper gefangen ist und unsichtbare Bänder zwischen Töchtern und Müttern, Söhnen und Vätern. Er erzählte von einer Frau in einem Fenster und einem Mann, der fiel. Davon, dass man manchmal nicht weiß, was man sucht und trotzdem weitersuchen muss, wie man gelegentlich etwas finden kann, von dem man gar nicht weiß, dass man es gesucht hat.
Viele Stunden später, als er neben ihr auf dem Teppich lag und keine Worte und Gedanken und Tränen mehr hatte und ihre Hände sich ineinanderflochten und er ihren sanften Atem an seiner Wange spürte – da gab es nichts mehr, das ihn warnte, keine Riegel, die einschnappten, keine innere Stimme, die ihm sagte, dass nicht geschehen dürfe, was gerade geschah.
Carin Gerhardsen, geb. 1962, ist in Katrineholm aufgewachsen und lebt nun in Stockholm. Sie ist Mathematikerin und hat bis vor Kurzem mit großem Erfolg in der IT -Branche gearbeitet.
NUR DER MANN IM MOND SCHAUT ZU ist ihr zweiter Kriminalroman, der wie ihr Debüt PFEFFERKUCHENHAUS in Schweden Leser und Kritiker gleichermaßen begeisterte.
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