Nur Der Tod Kann Dich Retten
sie, als er das gesagt hatte, keine Ahnung hatte, dass sie sich um irgendwas sorgen musste.
»Verrückte Schwuchtel«, murmelte Greg, als Victor die Tür des Containers öffnete und die drei Stufen hinuntereilte.
»Okay, Greg«, sagte Sandy und sprang so unvermittelt auf, dass sie um ein Haar ihren Stuhl umgeworfen hätte. »Das reicht jetzt wirklich.« Sie hockte sich wieder auf die Tischkante. »Und da du offenbar so viel zu sagen hast, würden wir jetzt gern hören, was du geschrieben hast.«
»Das ist, ähm, ziemlich persönlich, Mrs. Crosbie. Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
»Das ist schon in Ordnung. So leicht bringt man mich nicht in Verlegenheit.«
Greg blickte verschlagen in Delilahs Richtung. »Wohl nicht.«
Joey lachte, und der Rest der Klasse mit Ausnahme von Delilah stimmte ein, obwohl einige der Mädchen zunächst erschrocken nach Luft schnappten. »Kann ich bitte mal dein Heft sehen, Greg?«, fragte Sandy in einem Ton, der deutlich machte, dass es sich keineswegs um eine Bitte handelte.
Zögernd gab Greg ihr das Heft. Sandy schlug es auf und überflog die zumeist leeren linierten Seiten. Sie blätterte bis zur letzten Seite, die zu ihrer Überraschung mit einer Reihe erstaunlich guter, Comic-artiger Porträts übersät war. Die Personen waren sofort erkennbar: Da war Lenny Fromm, der Direktor der Torrance High, lässig bis zur Nachlässigkeit, entspannt bis zur Lethargie, mit seinem Glatzenscheitel, der seine schläfrigen Gesichtszüge fast völlig verdeckte; Avery Peterson, der Physiklehrer, der mit achtunddreißig Jahren genauso alt war wie Sandy, aber wegen seiner Vollglatze doppelt so alt aussah, und in den Zeichnungen als riesige Bowlingkugel auf winzigen, spinnenartigen Beinen dargestellt war; Gordon Lipsman, der Theaterlehrer, der als eckiger kastenartiger Kopf mit einer Knollennase und leicht schielenden Augen karikiert war.
Sandy war gleichermaßen entsetzt und geschmeichelt, auch sich in der Galerie wiederzufinden. Sie erkannte sich sofort an den widerspenstigen Locken ihrer Karikatur, dem übertrieben spitzen Kinn und dem ausgeprägten Muttermal über der
vollen Oberlippe. Der strichmännchenhaft dargestellte Körper war von einem langen formlosen Kleid bedeckt und wedelte mit dünnen Armen und knochigen Fingern in der Luft. Ist das ihr Bild von mir, fragte sie sich und musterte die neugierigen Gesichter ihrer Schüler. Eine hagere zerzauste Vettel?
Und sieht Ian mich auch so?
Ihr Blick wanderte auf die nächste Seite, wo die zerzauste Vettel mit einer Amazone kämpfte, deren riesige Brüste, wehendes Blondhaar und hochhackige Schuhe sie unverkennbar als Kerri Franklin identifizierten. Im Hintergrund stand ein Mädchen von monströsen Ausmaßen, aus deren hervortretenden Augen Tränen quollen, während sie versuchte, sich ein ganzes Hühnchen in den offenen Mund zu stopfen. Eine zweite Zeichnung zeigte die triumphierende Amazone, die einen Mann mit einer gewaltigen Erektion über ihre blonde Mähne reckte, während ihre hohen Absätze sich in die formlosen Umrisse der erlegten Vettel bohrten und das unförmige Mädchen nach einem weiteren noch lebenden und gackernden Hühnchen griff.
Sandy klappte das Heft zu und gab es Greg kommentarlos zurück. Ihr Herz pochte wie wild. Aber sie durfte sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen, dachte sie, obwohl in ihrer Kehle ein Schrei aufstieg. »Tanya«, sagte sie, sowohl den Schrei als auch die Tränen unterdrückend, und wandte sich einem der hübschesten Mädchen der Torrance High zu. »Könnten wir bitte hören, was du geschrieben hast?« Sandy zwang sich zu einem Lächeln und stellte dankbar fest, dass sie ziemlich unbeeindruckt klang.
Tanya McGovern stand auf. Sie, Ginger Perchak, zwei Reihen links hinter ihr, und die fehlende Liana Martin, die normalerweise direkt hinter ihr saß, bildeten die beliebteste Clique der Schule. Die Jungen buhlten um ihre Aufmerksamkeit, die anderen Mädchen kopierten ihre Frisuren, ihre Kleidung und ihre Posen. Sogar Sandys ansonsten durchaus vernünftige Tochter Megan war ihrem Bann seit kurzem verfallen. Zu
Hause hieß es ständig, Tanya dies und Ginger das. Sandy schauderte innerlich bei dem Gedanken, wie lange es dauern würde, bevor auch Megan ein MOVE, BITCH-T-Shirt haben wollte, wie es Liana gestern angehabt hatte. Wo waren eigentlich ihre Eltern, fragte sie sich wieder.
»Ich fürchte, ich hab es nicht richtig geschafft, etwas in mein Tagebuch zu schreiben, Mrs.
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