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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
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zählen vermochte, hatte Lovie ihr Möglichstes getan, um den Meeresschildkröten durch die Phase der Eiablage zu helfen. Nicht ausgeschlossen, dass sich unter der diesjährigen Schar von Muttertieren sogar ehemalige Junge befanden, die Lovie vor zwanzig Jahren beschützt hatte, als sie ins Meer krabbelten. Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln.
    Lovie lief hinunter zur Wasserlinie, direkt zu der Stelle, wo ihr die Wellen bis an die Zehen schwappten. Als sie klein war – ach, vor so vielen Jahren –, da hatte auch sie mit dem Ozean Haschen gespielt und war kichernd vor den heranrollenden Wogen weggerannt, genauso wie ihre Kinder und Enkelkinder. Doch nun waren sie alte Freunde, Lovie und das Meer. An diesem Abend hatte sie sich eingefunden, um sich von ihm trösten zu lassen. Lovie verharrte regungslos; jedes Kräuseln der Wellen um ihre Knöchel spürte sie wie eine zärtliche Berührung, und das sanfte Rauschen der Brandung kam ihr vor wie Liebesgeflüster.
Ist ja gut, alles gut …
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Anblick der jungen Mutter mit den beiden Kleinen hatte Bilder heraufbeschworen, die zwar voller Freude waren, ihr aber gleichzeitig das Herz schwer werden ließen. Zu rasch war die Zeit verflogen, waren ihr die Jahre wie Sand zwischen den Fingern zerronnen. Sie reckte das Kinn und wischte sich eine Träne von der Wange. Vor ihr erstreckte sich die tiefblaue Weite gleichsam bis in die Unendlichkeit. Dies ist nicht die Zeit für Tränen, schimpfte Lovie mit sich selbst. Du in deinem Alter müsstest wissen, dass das Leben nicht immer fair mit einem umspringt, genauso wenig wie die See. Und dennoch habe ich immer eins geglaubt: Wenn ich mich nur an die Regeln halte und lange genug durchstehe, dann bleibt mir eines Tages genug Zeit, um …
    Um was zu tun? fragte sie sich verwirrt. Noch immer war ihr nicht ganz klar, was genau eigentlich in der Beziehung zu ihren Kindern fehlte. Besonders im Verhältnis zu ihrer Tochter. Als kleine Kinder hatten Cara und Palmer unter den wachsamen Blicken der Mutter genau an diesem Stück Strand zusammen gespielt. Damals waren sie einander nahe gewesen, hatten so viel Spaß miteinander gehabt. Nun allerdings, da Lovies Kinder erwachsen waren, ließ sich fast Zoll für Zoll messen, wie sehr sie sich auseinander gelebt hatten, wie sehr sich die Distanz zwischen ihnen mit den Jahren vergrößert hatte.
    Sie wandte sich ab, wanderte den Strand entlang auf die drei Grundstücke zu, die in diesem Abschnitt wertvollen Baulands noch unerschlossen waren, und erklomm die kleine Düne. Jenseits der Grundstücke, in einiger Entfernung, konnte sie ihr Strandhaus erkennen, das auf einem Sandhügel thronte und fast hinter einer Reihe von hohen, schlanken Oleanderbüschen verschwand. Sein einst leuchtend gelber Anstrich war unter der Sonne abgeblättert und konnte mit dem prachtvollen Gelb der Schlüsselblumen, die wild in den Dünen wuchsen, nicht mehr mithalten. Sämtliche Winkel und Ecken, sämtliche malerischen Glasscheiben des Häuschens waren Lovie trotzdem lieb und teuer. Ihr „Primrose Cottage“, ihr Haus inmitten der Primeln, war mehr als nur ein Haus am Meer. Sie betrachtete es als eine Art Sinnbild: ein Ort des Sonnenscheins und des Glücks für sie selbst und ihre Kinder.
    Einsam stand Lovie da und schaute gen Westen. Das letzte Licht des Tages erlosch, dunkel und still senkte die Nacht sich herab. Man hörte nur das Rascheln des wogenden Strandhafers und das sanfte Plätschern der Brandung. Während die Geister der Vergangenheit erwachten und sich Phantomen gleich in den betörenden Farben der Dämmerung wanden, seufzte Lovie und faltete die Hände wie zum Gebet. Die alte Frau ging auf die siebzig zu. Für Bedauern oder für Zweifel, für Träume von dem, was vielleicht hätte sein können, hatte sie keine Zeit mehr. Sie musste planen. Das Strandhaus mit all den Geheimnissen, die es barg, sollte in sichere Hände übergehen. Zu lange Jahre war zu viel geopfert worden, als dass man die Geheimnisse nunmehr hätte preisgeben können. Für zu viele Menschen stand der Ruf auf dem Spiel.
    Nur eine einzige Hoffnung blieb ihr.
    „Lieber Gott“, betete sie, wobei ihr die Stimme keuchend aus der wie zugeschnürten Kehle drang. „Ich bin nicht gekommen, um mich zu beklagen. Dazu kennst du mich nach all den Jahren viel zu gut. Doch in der Bibel steht, dass du nie eine Tür verschließt, ohne gleichzeitig ein Fenster zu öffnen. Deshalb flehe ich dich an, dieses Fenster

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