Nur dieser eine Sommer
PROLOG
D er Tag ging zur Neige; gemächlich versank die gleißend rote Sonne im Dunst draußen vor der Küste von South Carolina. Lovie Rutledge stand allein auf einer niedrigen, sanft geschwungenen Düne und beobachtete zwei kleine Kinder, deren Haar die gleiche Farbe aufwies wie der Sand. Unter Gekreisch und Getobe spielten sie Fangen mit dem Meer – das uralte Spiel. Lovies Mundwinkel hoben sich unter dem Anflug eines unsicheren Lächelns. Der Junge war höchstens vier, und doch ging er mit seinem Stock, den er wie einen Degen zur Attacke zückte, unerschrocken auf die Brandung los. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte, die Welle dicht auf den Fersen, wieder den Strand hinauf. Meist allerdings wurde der arme kleine Kerl doch noch vom Wasser erwischt. Aber das Mädchen! Wie alt mochte die Kleine sein? Sieben? Acht?
Die
verstand sich aufs Fangenspielen! Auf Zehenspitzen tänzelte sie gefährlich nah an die Schaumkronen heran, erkannte instinktiv, wann sie zurückweichen musste, und neckte die Wogen mit hellem Gelächter.
Das Mädchen erinnerte Lovie an ihre Tochter. Wie sehr sie doch meiner Cara ähnelt, ging ihr durch den Kopf. Ein unterdrücktes Lachen entfuhr ihr, als der Bub von einer tückischen Welle erfasst, umgeworfen und kopfüber herumgewirbelt wurde, sodass er zornig nach Luft schnappte. Haargenau wie Palmer, wie mein eigener Junge! Ganz in der Nähe begann die junge Mutter der beiden die Sachen zusammenzupacken, bückte sich nach achtlos beiseite geworfenen Eimerchen und Buddelschippen, räumte die Spielsachen in einen Segeltuchbeutel und schüttelte den Sand aus den Strandtüchern.
Lass das, guck stattdessen deinen Kindern zu, hätte Lovie der jungen Mutter am liebsten zugerufen. Rasch! Hör mit dem Aufräumen auf, und schau dich um! Erkennst du, wie unbeschwert die Kleinen lachen? So lachen nur unsere Allerjüngsten! Sie ermöglichen uns auf diese Weise Rückschlüsse auf ihr Wesen! Koste sie aus, diese Augenblicke! Genieße sie! Denn sie vergehen so schnell wie der Sonnenuntergang, und eh du dich versiehst, bist du wie ich – eine alte, einsame Frau, die alles, buchstäblich alles dafür gäbe, noch einmal an einem milden Abend wie diesem mit ihren Kleinen beisammen zu sein.
Sie schlang die Arme um den Leib und seufzte. „Lovie, jetzt reicht es aber“, ermahnte sie sich kopfschüttelnd. Natürlich hätte sie der jungen Mutter auf keinen Fall ihre Gedanken mitgeteilt. Es wäre ungebührlich und zwecklos obendrein gewesen. Die Mutter hatte den Kopf voll mit anderen Dingen, musste an vieles denken, noch vieles tun. Sie verstünde Lovies Ratschlag wahrscheinlich erst, wenn die Kinder erwachsen und ausgeflogen wären. Eines Tages würde sie sich an diese Dämmerstunde erinnern, an den Anblick ihrer über den Strand tobenden Rangen, und dann … ja,
dann
würde sie sich wünschen, sie hätte beim Aufräumen innegehalten, die Kleinen bei den rundlichen Händchen genommen und gemeinsam mit den beiden Fangen gespielt.
Lovie verfolgte, wie die Szene sich in vorhersehbarer Weise weiter entwickelte: Die Strandtücher wurden zusammengefaltet und im Beutel verstaut, der Nachwuchs vom Meeresrand zurückkommandiert, und während sich allmählich die Dunkelheit herabsenkte, führte die Mutter ihre ermatteten Krieger in formlosem Gänsemarsch über die Düne. Schließlich waren sie außerhalb von Lovies Sichtweite.
Nun herrschte Stille an diesem vertrauten Strandabschnitt. Wieder war ein Tag vergangen. Ein Strandläufer stakste in seiner typischen steifbeinigen Art an der Schaumlinie der Wellen entlang und äugte nach Beute. Hinter Lovie wiegte sich der Strandhafer in der Abendbrise. Lovie schloss die Augen, überließ sich bewusst dieser wundersamen Melodie. Friedliche Abende wie dieser würden sich nun nicht mehr allzu oft einstellen. Es war Mitte Mai, die Ferienzeit lag nicht mehr fern; nicht mehr lange, und an der Küste von South Carolina würde die Urlaubssaison in vollem Gange sein.
Und bald schon, dachte Lovie, kommen auch meine geliebten Schildkröten.
Geraume Zeit schaute sie unbewegt aufs Meer hinaus, während sich um sie herum der Himmel dunkler färbte. Sie spürte geradezu, wie dort draußen, in der unter den Winden rollenden, wogenden Dünung, eine Meeresschildkröte auf ihre Zeit wartete, geduldig ausharrte, bis ihr ein mächtiger Instinkt eingab, dass nun der Augenblick da war, um sich an Land zu wagen. Sommer für Sommer, so lange schon, dass sie die Jahre gar nicht mehr zu
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