Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur Gutes

Titel: Nur Gutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erwin Koch
Vom Netzwerk:
Mutter insAusland fuhr an einen Kongress von Ohrenärzten, wie sehr er Angst hatte, ins Ausland zu fahren, weil er dachte, wer im Ausland ist, hat kein Inland, beides könne ein Mensch nicht haben, entweder oder, man müsse wählen, sich entscheiden. Und dass er ins Bett machte vor lauter Angst, im Bett neben seiner Mutter. Dass er dann, damit die Mutter nichts merkte, seine nasse Hose trockenrieb, stundenlang vielleicht. Dass ihm die Mutter, wieder im Inland, einen gelben Rollkragenpullover schenkte und sagte, sie sei sehr stolz auf ihn. Solche Dinge erzählte mir Simon, als wir uns verloren hatten.›
    Albert stieß sich vom Tisch, bucklig stand er am Tisch und bettete das Luftkissen um.

    Fünf nach sechs, finster -

    ‹Wir hatten ein Spiel, Simon und ich, als wir noch zusammen waren, noch nicht im Gefängnis. Wir nannten es Erinnerungsspiel. Einer von uns, entweder er oder ich, sprach lautlos das Alphabet von A bis Z, der andere sagte irgendwann Halt, die Person, die das Alphabet sprach, nannte den Buchstaben, bei dem sie unterbrochen wurde, D, N, R, S, egal, und schließlich erzählten wir uns, was uns einfiel zum Buchstaben G oder zum Buchstaben K, G wie Großvater oder Gott, zum Beispiel, oder K wie Kindergarten oder L wie Lebkuchen oder Laus oder Lied. Wir nannten es Erinnerungsspiel. Einmal schrieb er mir, nachts, in seiner Zelle, spiele er nun dieses Erinnerungsspiel mit sich allein. Und neulich sei erbeim Buchstaben V stehengeblieben, V wie Vater. Er schrieb, es sei wohl eine Sache von Sekunden, ob ein Sohn seinen Vater ein Leben lang liebe oder hasse, er glaube, er werde seinen Vater, trotz allem, nie hassen, denn sein Vater habe ihm einmal erzählt, wie seine Mutter starb, Simons Großmutter. Und dabei hätten sie beide geweint, Simon und sein Vater, der Pastor.›
    Anna schwieg.

    Daran könne er sich nicht erinnern, sagte Albert.

    Anna nahm das Bild wieder in ihre Hände, Simon darauf, seine Frau, seine Kinder am Bodensee.
    ‹Keine Lachfalten›, sagte sie leise.
    Dagmar schob die Waffeln zu Anna.
    ‹Bitte.›
    Anna nahm eine Waffel.

    ‹Irgendwann kamen keine Briefe mehr, seine Briefe kamen nicht mehr. Es ging mir schlecht. Ich schrieb nie zurück. Ich konnte nicht. Ich war schwanger, als ich verhaftet wurde, war ich schwanger. Ich wusste es nicht, als ich verhaftet wurde. Dann blieben meine Tage aus, ich war schwanger. Ich wollte kein Kind, auf keinen Fall wollte ich ein Kind. Ich redete mit meiner Verteidigerin, ich hatte eine Verteidigerin, Frau Grissler. Die verlangte, dass ein Psychiater in meine Zelle kam, um festzustellen, ob ich reif genug sei, ein Kind zu haben. Das normale Verfahren. Der Psychiater fragte nach prägenden Dingenin meinem Leben, T wie Trauma, nach Erlebnissen, die mich zu dem gemacht hatten, was ich war. Auf jeden Fall war ich unreif genug, kein Kind gebären zu müssen. Zur Abtreibung sollte ich ins Krankenhaus. Die Abtreibung war in acht, neun Tagen. Und dann, man kann es nicht erklären. Plötzlich wollte ich nicht mehr, ich wollte nicht abtreiben, was da in mir war, diesen Keim, diesen Prozess, ich weiß nicht, ob das zu verstehen ist. Ich wollte, was da wurde, nicht abbrechen. Und das hatte nichts mit Simon und seinen Briefen zu tun. Vielleicht doch, ich weiß es nicht. Plötzlich wollte ich dieses Kind. Also wurde ich dick und dicker. Die Verteidigerin bat ich, meinem Vater einen Brief zu schreiben, es mitzuteilen. Ich selbst konnte ihm nicht schreiben. Aber ich wollte, dass er es wusste. Herr Mangold, Paul, Ihr einziger Freund, war Großvater. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen.›
    Albert hob den Kopf und sah zu Dagmar.
    ‹Ich weiß, dass ich ein Mädchen bekam, ich weiß, dass es Sonntag war, mehr wollte ich nicht wissen. Sie brachten mich ins Krankenhaus, ich gebar ein Mädchen, es war schlimm, es war furchtbar. Ich wusste, man würde mir sagen, ob es ein Mädchen sei oder ein Junge. Mehr nicht. Ich wollte nicht sehen, was da aus mir kam. Das hatte ich mir verboten. Aber dann begannen die Wehen, ich hatte Angst, ich schrie und dachte: Wann hört das endlich auf? Wann hört das endlich auf? Eine Hebamme war da und streichelte mein Gesicht, meinen Arm. Ich fragte ständig: Ist das normal, was hier mit mir geschieht? Sie sagteständig: Frau Baumer, das ist so was von normal, was mit Ihnen geschieht. Dann war, weil alles so lange dauerte, Schichtwechsel, die Hebamme ging, eine andere kam, eine Polizistin stand vor der Tür, ich hörte sie sagen: Man könnte meinen,

Weitere Kostenlose Bücher